18. April 2024 Guten Tag, everybody

Traditionsballaststoffreiche Geschichte – 10 Jahre Sonar Quartett

[dropcap]M[/dropcap]it einer sich über sechs Konzerte plus zwei Diskussionsveranstaltungen erstreckenden Reihe präsentiert sich das Sonar Quartett zurzeit in Berlin. Vom Oktober 2016 bis zum März 2017 wird aktuelle Streichquartettmusik unter verschiedenen Vorzeichen zum Hören und Sehen gebracht. Als Generalnenner für alle Konzerte titelte man „Utopie Streichquartett“ – beginnend mit „Out of Space“ und „Free“. Großes Thema!

„Utopie Streichquartett“ (ohne Fragezeichen!), zu diesem Thema ging es zwischen den Konzerten in einer Gesprächsrunde mit Rainer Nonnenmann, Christian Grüny, Mathias Hansen und Jörg Mainka relativ rund zu. Die musikalische Gattung Streichquartett steht wohl wie keine zweite neben ihr für die Komposition in musikalischer Radikalität und Reduktion. Hier wird vorausgedacht, experimentiert und geprobt; hier findet sich das, was man althergebracht als den Gipfel kompositorischer Kunstfertigkeit versteht. Und damit verbunden auch den Begriff des Widerstands den Tradition bietet; ein „Ausdruck der Verpflichtung“ wie es der Komponist Jürgen Mainka nennt. Als sicher darf gelten: Musikalische Zukünftigkeit und verpflichtendes Erbe gehen eine komplizierte Beziehung ein. Überall lauern die Schlaglöcher der musikalischen Kompositionsgeschichte, die einem das Leben schwer machen können. Die Gattung scheint sich hin und wieder selbst geradezu zu blockieren.

Für Streichquartett zu schreiben heißt, sich mit traditionsballaststoffreicher Geschichte auseinandersetzen. Diese Zwänge anzunehmen und aufzuheben ist spätestens seit Beginn des 20 Jahrhunderts ein Dauerthema. Mit jedem neuen Stück, das sich herauswagt, erweitert und verengt sich der Blick in die Zukunft des Genres. Utopie (Streichquartett) als ein Nicht-Ort verweist auf ein Mehr, das man nicht einholen kann, wie der Philosoph der Runde, Christian Grüny, die Frage nach der Utopie aufnahm. Denn wo in anderen Gattungen die Tradition auch mit ihrer Fortschreibung sich selbst putzt – kompositorische Wege vertrocknen lässt –, türmt und ballt sich beim Streichquartett vieles aufeinander und verstellt den Blick damit zugleich.

„Out of Space“

Was wäre zum Beleg der These nicht treffender als das Zweite Streichquartett von Arnold Schönberg, das als erstes Stück die gesamte Reihe eröffnete. Es ist ein Zwitter: In der musikalischen Sprache an jenem Knotenpunkt, der Tradition und Zukünftigkeit bindet, angeordnet; weder das eine noch das andere ganz. Geradezu universalistisch knüpft es thematische Arbeit mit rhapsodischer Plötzlichkeit zusammen. Durch den Einsatz von Stimme und Text in den letzten beiden Sätzen verlässt es endgültig das Metier „Streichquartett“ trickreich. Das Sonar Quartett mit Susanne Zapf und Wojciech Garbowski (Violine), Nikolaus Schlierf (Viola) und Cosima Gerhardt (Violoncello) fand darin sich ausgezeichnet zurecht, weil es die musikalische Waagschale nicht zur einen oder anderen Seite kippen ließ. Die Sängerin Virpi Räisänen trat hinzu – nicht ganz so selbstverständlich in der Diktion.

Das Sonar Quartett mit Virpi Räisänen in der Akademie der Künste Berlin/West. Foto: Hufner
Das Sonar Quartett mit Virpi Räisänen in der Akademie der Künste Berlin/West. Foto: Hufner

Als zweites Stück brachte man Sydney Corbetts „Fractured Eden“, das dagegen einen schweren Stand hatte; begleitet von vier Tänzern, die ganz autonom sich bewegten, ähnlich in immer wieder einklinkenden Bruch-Tänzen (breakdance). „Fractured Eden“, das nach Aussage des Komponisten auf ein frühes Bild „A Fragment Of Eden“ von Paul Klee anspielt, kommt dabei so gut es geht ohne Melos-Aspekte aus. Die repetitiven Momente des ganzen Stücks mögen wirken wie mit der kompositorischen Tätoviernadel gesetzt. Doch die Dinge passten nicht so recht aufeinander, wie mir schien. Als materialerweiternder, nicht bloß hinzutretender Aspekt konnte das nicht wirken. Beide Programmpunkte wurden unter dem Motto „Out of Space“ gebündelt.

„Free“

Im zweiten Teil unter dem Titel „Free“ standen Werke von William Engelen „Falten“, Matthias Bauer „Gandr“, Franco Evangelisti „Aleatorio“ und Wiltold Lutosławski „Streichquartett“ zur Disposition. Alle vier zusammen mit verschiedenen Ausprägungen „offener Kunstwerke“ – also Stücke, die noch weniger vorfixiert ist wie es Musik sowieso nicht ist. Wie unterschiedlich sie dabei wirken. Erstaunlich traditionell plötzlich die Quartette von Evangelisti und Lutosławski, die noch Reste der traditionellen musikalischen Poetik in sich bergen und wie auf ganz präzise musiksprachliche Ideen fokussiert dagegen die Stücke von Engelen und Bauer. Letzteres sicher das Lockerste im Bunde. Alle zusammen zugleich Beispiele auch dafür, wie weit Schönbergs zweites Quartett eigentlich noch mehr „Freiheit“ in den Blick nahm, die sich bei den Stücken des zweiten Konzerteils un dem von Corbett auf spezielle Techniken verkürzt und den Gedanken von Carl Dahlhaus der Musikgeschichte als einer Problemlösungsgeschichte evident werden ließ. Das Sonar Quartett war auch in dieser Musik vollständig zu Hause.

Gelöst in Tönen

Gelöst in Tönen war der letzte Programmpunkt: Improvisation des Quartetts mit Michael Wertmüller am Schlagzeug und Dieter Amman an Trompete und Klavier. Eine schrille und über längere Strecken auch sehr laute Gruppenimprovisation. Sie hat tatsächlich funktioniert, auch wenn Wertmüller sein bekanntes technisches Inventar durchschlug. Gelöst wirkte das Sonar-Quartett vor allem bei diesem Stück flüchtiger Komposition.

Und schließlich reimt sich „free“ auch gut auf „Utopie“.

Das Sonar Quartett, das seinen Schwerpunkt des Repertoires auf die Musik seit 1908 gelegt hat, ist ein Ensemble voller Spielkultur, in welcher Konstellation auch immer. Seine Freude, die Grenzen des Ensemble zu überschreiten, ist nicht hoch genug zu loben.

Weitere Konzerte des Sonar-Quartetts:

Konzert 3 mit Elektronik und Lichtinstallation, 11.12.2016, 19:00: „on“
Giacinto Scelsi: Streichquartett Nr.4
Gerard Pape: Auftragswerk
Turgut Ercetin: December
Robert Ashley: string quartet

Konzert 4, 7.1.2017, 20:00: „pure“
Györgi Ligeti: Streichquartett Nr. 1 „Metarmorphoses Nocturnes“
Michael Wertmüller: Auftragswerk
Mark Andre: iv 13a- Miniatur für Streichquartett
Klaus Huber: …von Zeit zu Zeit…

Konzert 5, 25.3.2017,18:00: „retro“
Helmut Lachenmann: Gran Torso
Wolfgang Rihm: 8. Streichquartett
Diskussionsrunde zum Thema „Utopie Streichquartett“ mit Komponisten

Konzert 6, 25.3.2017, 20:00: „now“
Enno Poppe: Tier
Malte Giesen: Divertimento
Jörg Mainka: Auftragswerk
Chiyoko Szlavnics: Auftragswerk