19. April 2024 Guten Tag, everybody

Cross under – Solistenensemble PHØNIX16 feat. Maja S. K. Ratkje, POING in der Wabe Berlin

Inschrift. Foto: Hufner
musikkritik.org
Cross under – Solistenensemble PHØNIX16 feat. Maja S. K. Ratkje, POING in der Wabe Berlin
Loading
/

Das Solistenensemble PHØNIX16 startete sein vierteiliges Programm am 1. Juni unter dem Titel „Arbeiten kannste morgen!“ und steckte dabei ein Konzertereignis ab, das vom russischen Futurismus bis zum theatralen, videovisuellen Konzertstück von Timo Kreuser („Ein Regime“ UA) reichte. Das Publikum ist gemischt. Es gelingt!

Beim Eintritt in den Veranstaltungsraum der sechseckigen Wabe in der „Wabe“ hat das Konzert bereits begonnen. Arseny Avraamovs „Symphony Of Sirens“ [Simfoniya gudkov, Гудковая симфония] läuft aus den Lautsprechern (Hörbeispiel). Bei diesem knapp halbstündigen Zusammenschnitt gerät man in ein für die damalige Zeit unerhörtes Spektakel aus Sirenentönen, Kanonenschüssen, Chorgesang mit „Internationale“ und anderen politisch-motivierten Chorstücken. Avraamov schrieb einmal: „Music has, among all the arts, the highest power of social organisation.” Ein soziales Ereignis, das den Raum umfasst.

In der Wabe aber aus Lautsprechern tönt. Wir sind musikalisch in der Durchbruchszeit nach der russischen Oktoberrevolution. Musik ist eine soziale Angelegenheit. Erinnerung an das „Dekret Nr. 1 über die Demokratisierung der Kunst. Zaunliteratur und Hinterhofmalerei“ von Vladimir Majakovskij, David Burljuk, Vasilij Kamenskij, das zur gleichen Zeit verfasst wurde. Da liest man: „Von heute an soll sich der Bürger, wenn er die Straße entlanggeht, in jeder Minute an der Tiefe des Denkens großer Zeitgenossen ergötzen, er soll das farbige Leuchten der schönen Freude des heutigen Tages betrachten, soll allenthalben der Musik – Melodien, Getöse, Lärm – wunderbarer Komponisten hören. // Die Straßen sollen ein Fest der Kunst für alle sein.“ (Siehe auch …). Avraamov hat mit seiner „Simfoniya“, eben trotzdem eine Symphonie, diesen Anspruch ernstgenommen. Es spricht auch nichts dagegen, den Doppelcharakter von Kunst und Welt gleichzeitig wahrzunehmen. Musikalisches Werkzeug und ihre Machart fallen bei diesem Stück schön zusammen. „Völker, hört die Signale“, auch wenn sie Musik aus Sirenen sind.

„Music has, among all the arts, the highest power of social organisation.” (Arseny Avraamov)

Dagegen und daran anschließend setzte man Timo Kreusers Hymnen 1 bis 3. Eine Abfolge der französischen, deutschen und englischen Nationalhymne. E-Gitarre und Gesang über eine Talkbox bringen die Melodie verzerrt, zwei Musiker an Tom und Cymbal setzen dahinein wenige, sehr wenige Einzelklangakzente. Zwischen den Stücken und am Ende jeweils ein emphatische Ruf von Egalité, Fraternité und Liberté. Ein krudes leises Stück, dessen Härte vor allem durch das laute Knacken beim Einstöpseln der E-Gitarre in den Verstärker hervorgerufen wird. Das Stück biegt sich unter Last der Hymnen, deren historische Bedeutung sie ja mit sich führen. Und auf diese Weise auch von sich führen. Kein billiger Effekt – ein subtiler.

Diese Diashow benötigt JavaScript.

Es tritt auf die Vokalkünstlerin Maja S. K. Ratkje an einem Tisch mit Mischpulten, einem Theremin und allerhand klangbeeinfussendem Gedöns. Ein Solo, improvisiert wohl, einem mehr oder minder durchschauberen Plan folgend. Virtuos das, ganz gewiss. Beeindruckend, das auch. Da muss man sich drauf einlassen und sich mitnehmen lassen oder man lässt es eben bleiben. Oder: teils, teils. In der Vorankündigung las sich der Titel noch als „Putin’s Case“, auf dem Programmzettel als „Solo“, was es auch war.

„Cross Under“

Damit beginnt das, was ich „Cross Under“ im Gegensatz zum musikalischen „Crossover“ der gelben und sonstwie bunten Gesellschaftsräume in einlullend-jämmerlichen Schlummerlichten, die angeblich zur Rettung der (klassischen) Musik, in Wirklichkeit aber zur Rettung der Industrie dahinter innenarchitektet sind. Dagegen ist die Wabe, die im Morgenschatten eines Hochhauswohnelements liegt, Nahe der Kreuzung Danziger und Greifswalder Straße in Berlin, mit ihrer Ranzigkeit und Geschichte eine andere Angelegenheit. So wie auch die Musik hier in diesem Konzert mit ihrer Unruhe und eher offen als geheimnisvollen Polyzugänglichkeit. „Cross Under“ überschägt sich ästhetisch nicht, sondern hier nähren sich Haltung, Stil und Expression gegenseitig.

Timing und Taktik

Beispielhaft da, wenn die „Working Class Songs“, die Ratkje mit den Backingvocals von vier PHØNIX16 -Mitgliedern und der norwegischen Gruppe POING (mit Rolf-Erik Nystrøm – Altsax, Frode Haltli – Akkordeon und Håkon Thelin – Kontrabass) vorgetragen werden. Da kreuzen sich die musikalischen Felder aus Jazzgesang, Gesang ohne Jazz, experimentellem Gesang über einem musikalischen Bett des Trios POING, bei dem mit Rolf-Erik Nystrøm am Altsaxofon ein zugleich virtuoser Improvisator mit von der Partie ist. Das ganze amalgamiert sich durch die reizvollen Arrangements, die den Working Class Songs ihre historisierende Präsenz nehmen, sie vielmehr in die Gegenwart geleiten, wo ihnen ein nunmehr höchstens provinzieller Pathos zusätzlich abhandenkommt. Das Kampflied, das man in größter Verzweiflung des Nachts in die Tasten trommelt und jeder Schluckauf die nostalgischen Anwandlungen noch verstärkt, das wird nicht (!) aufgebügelt. Maja Ratkje bewegt sich darin flüssig, anschmiegsam, mimetisch; rauh ebenso wie tonsüß. Timing ist hier alles.

Timo Kreuser: Ein Regime (UA)

Nach der Pause Timo Kreusers Uraufführung von „Ein Regime“. Etwa 30 bis 40 Minuten. Die Musiker spielen in Richtung Leinwand hinter der Bühne, denn dorthin wird ein Schachfeld projiziert, auf dem Estelle Lefort und Meredith Nicoll als Mitglieder des Solistenensemble PHØNIX16 die Figuren bewegen. Das Schachbrett selbst ist ein umgebautes Launchpad und so haben die Figurenbewegungen auch immer (?) irgendwelche optischen Konsequenzen (auf den kleinen Videoleinwänden links und rechts der Bühne) zur Folge, was wiederum die Musiker zu anderen Klangaktionen veranlasst – auf deren Notenpulten liegen Schachbrettskizzen, die mit Einzeichnungen versehen sind. Durchschaubar war das für mich nicht.

Die Sängerinnen spielen so etwas ähnliches wie Freeschach und jagen irgendwann einmal auch die Wahnsinnsarie aus Mozarts Zauberflöte durch den Vocoder und spalten sie in Harmonics auf, ein Lux aeterna wird gesungen. Komponist Timo Kreuser ist im Klavier zu Gange. Das bricht nach gefühlten 30 Minuten plötzlich ab mit den Worten: „Fuck That Shit“. Danach flüchten alle (!) MitspielerInnnen durch den Ausgang. Ein Break, ein kurzer Applaus aus dem Publikum. Sekunden später sieht man auf der Leinwand ein Video, das zeigt, wie die vier Instrumentalisten in Hubschrauber steigen. Es ist eine Filmmischung aus Computerspielsequenzen und Realbildern – Fake Real. Sie musizieren in den Flugobjekten weiter, Splitscreen – eine minimal kurze Einblendung verweist mit einem Foto Karlheinz Stockhausens auf dessen Hubschrauber-Quartett. Endlich werfen sie irgendwann Dosen (die offenbar Bomben simulieren sollen) nacheinander aus den „Hubschraubern“. Im Splitscreen gehen daraufhin vier Gebäude in die Luft. Schnitt. In der letzten Sequenz sieht man die Musiker ein vergnügtes Leben in der Karibik mit entsprechende Cocktailkipping und Reggae-Sound leben – Party! Es wird im Publikum gelacht.

Es wäre da einiges draus zu lesen. Man könnte von hier zum Futurismus zurückschalten und Zeichen setzen, die Revolution weiterführen, über die Zerstörung zur Partybombe. Man kann es auch ganz einfach lesen, ohne alle dialektische Salti. „Ein Regime“: Multimediales (Musik-)Theaterstück, bei dem man nicht zwingend in die tiefen Taschen der Mäntel des Geistes greifen muss. Es verstört nicht, es empört nicht, es ist ein Stück so real wie absurd. Simpel und schwarz, blind wie bedeutend. Muss es mehr sein? Nein.

Kein Anlass zur Beruhigung. Das Konzert aus der Dramaturgie des Solistenensembles PHØNIX16 gibt gute Gründe vor, warum solche Konzerte sein müssen. Sie erzeugen Zusammenhänge, die Stücke bespiegeln sich gegenseitig. Man kann von verschiedenen Seiten zugreifen auf das, was da passiert. Es werden die Teile unter der Hand zusammengebunden – und da wird es immer so sein, dass dem einen dies und dem anderen das gefällt und den einen alles und den anderen nichts fehlt.

Der Eintrittspreis war mit 10 Euro (ermäßigt 8 Euro) übrigens sehr zivil. Zumal wenn man bedenkt, das zur gleichen Zeit die Feier der Jazzindustrie, kurz ECHO Jazz, in Hamburg mit durchschaubarem Inhalt für 59 Euro zu haben gewesen wäre. Kurz: Beim Solistenensemble PHØNIX16 kannste ins Konzert gehen (!) und dich überraschen lassen.


Die nächsten Konzerte sind jeweils im Heimathafen in Neukölln am 31. Oktober (Erschrecken kannste selber!), am 6. Dezember (Shoppen kannste woanders!) und am 30. Dezember (Poppen kannste mich nich!).

Zuerst erschienen in: nmz-online am 4.6.2017.