Alles Lebendige, selbst noch das Tote, ist in der Lage, Töne zu erzeugen. Freiwillig, unfreiwillig, gezwungenermaßen oder selbstbewusst. Der 100. Geburtstag von John Cage erzwingt unfreiwillig, da allein durch das formale Datum eines Jubiläums, die Beschäftigung mit seiner Musik. Und es ist klar, will man in aktueller Musik zuhause sein, führt kein Weg an Cage vorbei. Jedenfalls fast nicht. Um ihn herum kamen auch freiwillige und unfreiwillige Besucher nicht, die mehr oder minder zufällig zwischen 11 und 14 Uhr das Kakteen-Gewächshaus des Botanischen Gartens in Berlin betraten. An diesem, sonst relativ stillen Ort, zirpte, kratzte und gluckerte es.
„Branches“ für verstärkte Pflanzenklänge und 4 Spieler (1976) und „Inlets“ für wassergefüllte Muscheln und 3 Spieler (1977) kamen zur Aufführung durch ein Ensemble um den in Köln lebenden Künstler Peter Behrendsen. Er war es auch, der in den 80er Jahren das Stück nach Deutschland brachte, noch von Cage habe er es gelernt, wie er sagt. Die Pflanzen wissen nicht, was ihnen widerfährt. Sie hängen aufgereiht an Kabeln, versehen mit Kontakten, oder stehen oder liegen auf Tischen. Musiker berühren diese Gegenstände auf vielfältige Art und Weise. Sie folgen dabei einer Partitur, deren Ordnung kein Mensch hergestellt hat, sondern ein Losverfahren. Natürlich kommt dabei kein Samba heraus und längst auch nicht der Klang eines Gemüseorchesters.
Eher schon passen sich die Klänge der kargen, stacheligen Umgebung an, der kühlen Wärme dort im Kakteenhaus. Obwohl, so karg die Umgebung für gewöhnlich ist, war sie gar nicht. Die Pfade des Kakteenhauses waren gesäumt mit Schauhörigen. Sie lauschten, sie fotografierten, sie saßen und sie standen. Sie tauchten jeweils mehr oder weniger ein in diese Szenerie. Nicht alle gut gelaunt. Mancher fühlte sich vielleicht bedrängt. Ein bisschen Schieben hier, ein bisschen Schubsen dort. Eine Klangmeditation mag anders aussehen. Doch das gehört zum Phänomen der späteren Musik „von“ (es dreht sich einem im Munde um dieses Wort) Cage hinzu, dass man die Grenze nicht so recht ziehen kann, zwischen dem, was sich in einem bestimmten Zeitraum durch „Künstler“ in Klang und Gang gesetzt wird und dem, was sowieso schon ist. Gewiss, Geräusche wie das Klicken von Fotoapparaten sind auch im Kakteenhaus ohne „Werke“ von John Cage zu hören. Nur seltener und nur, wenn man noch präziser seine Ohren darauf spitzt.
Deswegen setzt diese Art, Musik zu machen, eigentlich jeden ins Recht. Den zufällig Herbeigekommenen, der die Aktion nur „komisch“ findet ebenso wie den auf einer Steinballustrade in sich versunkenen Hörer. Der im Kakteenhaus vorhandenen Tierwelt schien alles noch am wenigsten verständlich. Der über den Boden huschenden Maus mag es etwas mulmig sein, ob der vielen Fußsohlen, der sie ausweichen muss. Dem Schlussapplaus nach den jeweils drei Aufführungsrunden musste man sich auch etwas abhören. War es nun der Kadenz-Klang des Stücks oder eben doch das Konzertritual.
Ob man es so sieht oder anders. Oder ganz anders. Der Platz war gut gewählt, die Stücke dazu angetan, an diesem Platz die beste Wirkung zu entfalten. Es war ein Happening en miniature. Es war auch gar nichts. Warum auch nicht? Wo immer alles etwas sein muss.
Zuerst erschienen in nmz-online, 26.03.2012