1. September 2024 Guten Tag, everybody

Zensur – ein missbrauchter Begriff in den aktuellen „Kunstdiskursen“

Man könnte meinen, man lebe in einem Land, in dem die Zensur zum alltäglichen Leben gehört. Gerade auch im Kulturbereich schwelt an vielen Ecken der vehemente Vorwurf, Kunst werde zensiert. Der Zensurvorwurf wird dabei auf breiter Front von Künstlerinnen, Institutionen (wie dem Deutschen Kulturrat), aber auch von Parteien (wie der AfD) erhoben. Was ist da dran? Ein Kommentar.

Es hat den Anschein, als ob der Begriff der Zensur zu einer Art Generalschlüssel für fehlende Argumentationslinien wird. So hat der Deutsche Kulturrat die Entscheidung gegen das Stehenlassen eines Gedichtes an einer Hochschule in Berlin als Zensur bezeichnet. Vertreter der AfD empfanden den Vorschlag des Deutschen Kulturrates, ein Jahr lang auf Talkshows zu verzichten, als Zensur. Als über die Möglichkeit der Nominierung von ein paar Rappern für den ECHO 2018 diskutiert wurde, ging es für die einen um Kunstfreiheit, für die anderen um Meinungsfreiheit und für die Dritten um Respektlosigkeit. Jüngst sorgten Einladungen und Ausladungen einer englischen Band (Young Fathers) bei der Ruhrtriennale für Wirbel. Wieder stand der Vorwurf von Zensur durch Veranstalter im Raum – jetzt nun wirft der Komponist Wieland Hoban dem künstlerischen Leiter der Donaueschinger Musiktage, Björn Gottstein, wegen Nichtberücksichtigung eines seiner Stücke Zensur vor (Wieland Hoban: Zensur in Donaueschingen).

Kunst und Kultur finden sich wieder in einem andauernden Zensurkampf, könnte man meinen. Aber das stimmt nicht. Es stimmt schon deshalb nicht, weil in keinem der Fälle so etwas wie Zensur vorliegt. Und zwar wir sprechen von Deutschland nach deutschem Recht. Das deutsche Recht ist vom Prinzip her nämlich gar nicht so kompliziert. Die Grundlagen finden sich im Grundgesetz in seiner jetzigen Fassung. Dort steht in Artikel 5 am Ende von Absatz 1 schlicht: „Eine Zensur findet nicht statt.“

Zensurbericht zu Balthasar Graciáns „El Criticón“
Zensurbericht zu Balthasar Graciáns „El Criticón“

Nun kann ja in Rechtstexten stehen was da will, deshalb muss das ja faktisch nicht der Fall sein. Juristen, habe ich mir sagen lassen, sprechen in der Auslegung dieses Grundgesetztextes von der Verwirklichung einer Vorzensur, präziser einer staatlichen Vorzensur. Also einer staatlichen Behörde, der man Texte, Bilder, Töne etc. vorlegen muss und die dann entscheidet, ob etwas publiziert werden darf oder eben nicht. Eine solche Behörde gibt es in Deutschland zurzeit jedenfalls nicht. Es würde ja auch dem Grundgesetz widersprechen.

Grundgesetz Artikel 5: „Eine Zensur findet nicht statt“

Wie also kann man von Zensur sprechen, wenn es in Deutschland keine Zensur gibt? Das kann seinen Grund ja nur darin haben, jemandem, der eine Entscheidung treffen muss, ob eine Sache zum Beispiel im Rahmen eines Festivals aufgeführt werden kann, zu unterstellen, dass er dies verbieten könne – und zwar über das Festival hinaus. Zensur wäre Verbot. In allen den genannten Fällen hat es ein solches Verbot nicht gegeben und es wäre auch sehr unwahrscheinlich, dass ein Einzelner ein Kunstwerk verhindern oder verbieten könne.

Die Young Fathers können überall dort auftreten, wo man sie gerne hören möchte, Komponist Wieland Hoban kann seine Stücke überall spielen lassen, wo man sie spielen möchte.

Die Entscheidung darüber, ob man jemand einlädt oder nicht, liegt in der Hand des oder der Einladenden. Der oder die kann seine oder ihre Entscheidung transparent machen oder auch nicht. Man kann die Entscheidung dann richtig finden oder nicht. Aber Zensur ist all das keineswegs.

Leider fallen auf diese Zensur-Vorwurfsmuster aber auch Programmgestalterinnnen herein, wenn sie für sich reklamieren, dass sie keine Lust verspüren, Kunst zu zensieren – so wie Stephanie Carp im Interview mit dem Deutschlandfunk.

„Zensur in Donaueschingen?“

Wieland Hobans „offener Brief“ trägt den Titel „Zensur in Donaueschingen“ – geradewegs so, als handele es sich um ein Faktum. Der Vorwurf ist massiv. Aber er ist eben einfach falsch. Die Absage des künstlerischen Leiters der Donaueschinger Musiktage, ein bestimmtes Werk des Komponisten Wieland Hoban nicht zu programmieren, empfinden der Komponist und die den Brief Unterzeichnenden als ein „absolutes Verbot“.

„Aber hier geht es nicht um ein bestimmtes Projekt, nicht um eine bestimmte Person, denn Gottsteins Worte sind ein absolutes Verbot für alle Komponist*innen, die etwas zu diesem Thema zu sagen hätten. Ich und die unten angeführten Kolleg*innen sind der Ansicht, dass dies nicht hingenommen werden darf. Wir glauben, die Kunst müsse ein Forum für freien Gedankenaustausch sein und lehnen jede Form von Zensur ab.“  (Wieland Hoban: Zensur in Donaueschingen)

Da kommt alles ein bisschen durcheinander. In der Ablehnung von Zensur dürften sich alle Parteien einig sein. Dass aber Björn Gottstein ein „absolutes Verbot“ ausspräche, ist schon terminologisch waghalsig, denn worin würde sich die Absolutheit äußern? Weder hat Gottstein Hoban ein Kompositionsverbot erteilt noch hätte er überhaupt die Möglichkeit es durchzusetzen. Dafür müsste er eine gerichtliche Entscheidung in dieser Art erwirken. Das wird er kaum wollen, es wäre auch unwahrscheinlich, dass er damit Erfolg haben könnte.

Was tun? Was lassen?

Der nächste Punkt ist freilich interessant: Die Unterzeichnenden tun kund, dass sie dies nicht hinnehmen wollen. Was wollen sie aber unternehmen? Eigentlich hätten sie nur zwei Möglichkeiten: Sie müssen wollen, dass Gottstein seinen Posten verlässt und jemand anderes an seine Stelle tritt, der persönlich eine andere Auffassung hat als er, damit eine Komposition in Donaueschingen dann doch mal gespielt wird. Wie das konsequent aussehen könnte, sagen die Unterzeichnenden freilich nicht. Der zweite Lösungsweg wäre sicher der einem Rechtsstaat angemessenere: Man zieht vor Gericht und setzt auf die Weise durch, dass dieses Stück aufgeführt wird. Dazu wäre ein Gang vor das Bundesverfassungsgericht recht angebracht, denn nach Auffassung der Unterzeichnenden wird in Donaueschingen schließlich ein Grundrecht gebeugt. Nämlich Artikel 5: „Eine Zensur findet nicht statt.“ Wenn sie also doch stattfinden sollte nach Auffassung der Unterzeichnenden, dann wäre es sogar absolut ehrenwert, diesen Versuch zu unternehmen. Nein, er wäre sogar zwingend erforderlich, denn so ein eklatanter Rechtsbruch, den man hier Björn Gottstein vorwirft, ist eigentlich nicht hinnehmbar.

Ich bin mir nicht sicher, ob die zahlreichen Unterzeichnenden, die mit dem Rechtssystem Deutschlands vielleicht nicht so vertraut sind, dies tatsächlich mitbedacht haben. Aber über diesen konkreten Fall hinaus wäre es angemessen, allen, die Vorwürfe der Zensur äußern, diese auch rechtlich zur Geltung bringen. Denn auch der Vorwurf von Zensur gegenüber Institutionen oder Einzelpersonen ist ein schwerwiegender – und er wird umso gröber, je mehr Menschen man hinter sich versammelt.

Abrüstung der Begriffe

Den Kulturrat abwandelnd möchte man sich wünschen, dass man die Geschütze der Vorwürfe mal etwas herunterfährt. Und Zensur dort brandmarkt, wo sie eben auch tatsächlich stattfindet. Ehrlich gesagt, macht man sich andernfalls eher lächerlich und beschädigt damit den freien Austausch der Gedanken sowie seiner Anliegen. Das ist ein eitler Wunsch in einer Welt, die es sich zur Gewohnheit macht, Dinge erst einmal zu eskalieren. Und das ist Zeichen einer Kultur, die sich selbst verdirbt. 


Zuerst erschienen bei nmz.de am 16.08.2018