19. März 2024 Guten Tag, everybody

Irritation regt zum Denken an – Die Komponistin und Performerin Julia Mihály im Gespräch

Gerade mal ein Jahr ist es her, dass die neue musikzeitung eine Umfrage zum Thema: „Inwiefern kann die zunehmende Ökonomisierung unserer Gesellschaft mit künstlerischer Kreativität vereinbart werden?“ oder auch etwas verschärft. „Kastriert Kapitalismus Kreativität?“ durchführte. Es antworteten unter anderem Johannes Kreidler, Brigitta Muntendorf, Enjott Schneider, Julia Cloot, Ralf Weigand und Gerald Mertens. Aus der Umfrage entstand eine Interviewserie, in der die Redaktion Interpreten und Komponisten zu ihren spezifischen Arbeitsbedingungen und Lebenswirklichkeiten befragt. Darunter Nils Mönkemeyer, Carola Widmann, Charlotte Seither oder Igor Levit. Lesen Sie in dieser Ausgabe ein Gespräch zwischen nmz-Redakteur Martin Hufner und Julia Mihály.

Du bist, was du isst: Julia Mihály, elektronische Komponistin. Foto: Ela Mergels
Du bist, was du isst: Julia Mihály, elektronische Komponistin. Foto: Ela Mergels

Die Arbeiten Mihálys bewegen sich an den Schnittstellen von Neuer Musik, Performance-Kunst und elektroakustischer Musik. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in der Verbindung von Stimme und (Live-)Elektronik, die sie mit unterschiedlichen Arten von Controllern, wie etwa Gaming Devices, Bewegungs-Sensoren und gehackten Spielzeuginstrumenten steuert. Derzeit unterrichtet Julia Mihály das Fach „Komposition und Technologie“ an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt.

neue musikzeitung: Julia Mihály, Sie haben in Hannover an der dortigen Musikhochschule Gesang und Elektronische Komposition studiert, zur gleichen Zeit wie Igor Levit. Der hat nun eine Weltkarriere hingelegt und jettet durch die Welt. Sie haben sich der puren Neuen Musik hingegeben – als Vokalperformerin und Komponis-tin. Da jettet man auch herum, aber zu anderen Konditionen. Haben Sie es bereut, sich so spezialisiert zu haben, statt eine Karriere auf den Opernbühnen der Welt zu wählen?

Julia Mihály: Eine Karriere im museal ausgerichteten Konzertbetrieb war für mich künstlerisch keine Option und ich habe es gehasst, als Produkt für den Klassik-Markt ausgebildet zu werden. Ich wollte dort Handwerk lernen, um meine eigenen Projekte realisieren zu können, ganz unabhängig davon, ob sich das später in meiner Vita gut lesen lässt. In der Neuen-Musik-Szene habe ich genau das Feld gefunden, in dem ich gerne arbeite.

nmz: Sie sind ja Performerin, das heißt, Sie müssen „Werke“ auf die Bühne bringen. Welche Rolle würden Sie sich selbst dabei zuschreiben? Verstehen Sie sich als Dienerin oder Mitschöpferin? Und wie wichtig sind dabei eigentlich Sie selbst als Person und Kunstwerk „Julia Mihály“?

Mihály: Ich finde es schwierig, mich in der Rolle einer Dienerin für eine Komposition wiederzufinden. Das geht mir nicht weit genug. Dann eher Mitschöpferin. Ich bin auch gerne Teil eines Kollektivs, das heißt die traditionell exponierte Position der Sängerin mit dem Ensemble im Rücken interessiert mich eher nicht, vielmehr, mit den Kolleg/-innen eines Projekts eine Komposition gemeinsam zu gestalten. In meinen eigenen Stücken gibt es sehr wohl eine Art Kunstfigur „Julia Mihály“, die gehört aber nicht in fremde Kompositionen hinein, sondern ist ein wesentlicher Bestandteil der performativen Ebene meiner eigenen Stücke.

nmz: Sie arbeiten im Spannungsfeld von Stimme, Performance und Elektronik. Man wird wohl kaum lügen, wenn man sagt: Das Repertoire ist da sehr übersichtlich. Genauso wie die entsprechende Anzahl an Interpretinnen. In der ohnehin übersichtlichen Welt der Neuen Musik stehen Sie mehr oder weniger deutlich als Solitär da. Eigentlich doch eine recht bequeme, herausragende und eigentlich konkurrenzlose Position. Empfinden Sie das auch so?

„Ich bin ja kein Rennpferd“

Mihály: An Konkurrenz denke ich nicht. Ich bin ja kein Rennpferd. Es geht doch darum, als Künstlerin sein eigenes Ding für sich zu finden, eigene Ausdrucksmittel und Themen, zu denen man etwas mitzuteilen hat, die einen packen. Da ist man dann erstmal ganz bei sich. Natürlich befindet man sich auch innerhalb eines Diskurses, aber dabei gibt es ja kein „Besser-“ oder „Schlechter-“sein. Vielmehr hat jeder die Möglichkeit, darin eine Position für sich zu finden. Es gibt in der Tat vergleichsweise wenig Repertoire für Stimme und (Live-)Elektronik, was für mich zum Beispiel die Motivation war, bei den diesjährigen Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt einen Workshop anzubieten, in dem Kompositionen für genau diese Besetzung entstehen sollten.

nmz: Zum Thema Demokratisierung der Produktionsmittel: Früher war es mit großem Aufwand verbunden, elektronische, elektroakustische oder anders medial angereicherte Musik zu machen. Es gab und gibt zahlreiche Spezialeinrichtungen dafür, wie das Studio für elektronische Musik Köln, IRCAM, ZKM. Reicht heute nicht ein Raspberry PI und ein Smartphone dafür? Im Bereich der Popkultur ist das ja längst so. Wie sieht es in der Neuen Musik damit aus?

Julia Mihály: Ja, solche Spezialeinrichtungen sind in gewisser Weise Relikte einer vergangenen Musikepoche. Leistungsfähige Computer hat man heutzutage selbstverständlich zu Hause stehen. Ich sehe das zum Beispiel bei den Kompositionsstudierenden an der HfMDK Frankfurt, an der ich unterrichte. Die kommen zum Arbeiten in der Regel ins Elektronische Studio, wenn es etwa arum geht, ein Stück Mehrkanal aufzubereiten oder mal über sehr gute Lautsprecher abzuhören und abzumischen. Große Institutionen wie das IRCAM oder ZKM bieten darüber hinaus Möglichkeiten im Bereich der Forschung, die das heimische Studio bei weitem übersteigen. So haben Künstlerinnen dort die Chance, zum Beispiel mit Programmierern zusammenzuarbeiten und Prozesse umzusetzen, die die „herkömmlichen“ Audioprogrammier-Skills von Komponistinnen und Komponisten übersteigen.

nmz: Ein Leben zwischen Auftrag und Sendung. Nach welchen Maßstäben wählen und gestalten Sie Ihre Programme? Sind Sie dabei komplett frei oder müssen Sie auch Kompromisse machen?

Mihály: Ich mache extrem ungern Kompromisse und ich gehe nicht mehr mit Musik auf die Bühne, zu der ich ästhetisch nicht stehen kann. Klar bekomme ich auch thematische Vorschläge von Veranstaltern. Wenn ich mich darin aber nicht wiederfinde, bin ich nur schwer in der Lage, so ein Projekt in einer für mich zufriedenstellenden Weise umzusetzen. Dann fühle ich mich als Dienstleisterin und so kann ich nicht authentisch sein und arbeiten.

nmz: Welche Defizite haben Sie in Ihrer bisherigen Tätigkeit innerhalb der Neue-Musik-Szene festgestellt, außer dass vielleicht einmal kein Strom aus der Steckdose gekommen wäre. Welche Probleme stellen sich Ihnen in den Weg – oder ist alles eitel Sonnenschein?

Mihály: „Komposition“ ist in vielen Köpfen noch immer mit der Vorstellung von Partituren auf der Basis traditioneller Notation verknüpft. Andere Formen wie zum Beispiel Video-Partituren, Computerprogramme oder eine eigene App gelten immer noch als exotisch. Ich würde mir wünschen, dass sich das Denken dahingehend schneller öffnet. Eine andere Sache in der Neue-Musik-Szene ist das Vergeben von Kompositionsaufträgen an Composer-Performer, ohne dabei zu berücksichtigen, dass man hier ein zusätzliches Budget benötigt, um etwa Requisiten für eine Performance anzuschaffen. Die fallen im Denken vieler Veranstalter anscheinend immer noch gratis vom Himmel. Das heißt, Förderstrukturen sollten dahingehend überarbeitet werden.

Da hat es das Experiment wesentlich schwerer als das Entertainment

nmz: Sie haben einmal gesagt, dass in der Neue-Musik-Szene anders mit Geldern umgegangen wird als im Mainstream-Klassikbetrieb, was meinen Sie damit, können Sie das konkretisieren?

Mihály: Naja, der Mainstream hat eben mehr Geld als die Nische und die Nische der Nische. Es gibt viele Konzertreihen für Neue Musik, die sich zwar über Jahre hinweg irgendwie über Wasser halten und wirklich aktiv an der Gestaltung einer lebhaften Konzert- und Aufführungskultur mitwirken. Allerdings stehen dort oftmals – im Verhältnis dazu, was dort geleistet wird – sehr eingeschränkte Mittel zur Verfügung. Selbst den großen Neue-Musik-Festivals stehen ja bei weitem nicht Budgets zur Verfügung, wie sie von der Größenordnung vergleichbare Festivals aus dem Popularmusik-Bereich haben. Da hat es das Experiment wesentlich schwerer als das Entertainment.

nmz: Wie sehen Sie sich selbst in dem Vermarktungszirkus der Musik, als Ich-AG Julia Mihály, die alles selbst machen muss, vom Komponieren bis zum Verlegen? Genießen Sie diese Unsicherheit oder streben Sie eine verbeamtete Sicherheit im Hochschulbereich an?

Mihály: Ich mag die Hochschularbeit, weil ich gerne unterrichte und mich innerhalb der Community sehr wohlfühle. Die Kooperationsmöglichkeiten und den Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen schätze ich dabei sehr. Von daher ist eine Festanstellung an einer Hochschule langfristig, neben einer finanziellen Absicherung, erstrebenswert für mich. Ich genieße es daneben aber auch, unabhängig zu arbeiten, Sachen nach meinen eigenen Vorstellungen gestalten zu können. Und ich habe zu einem gewissen Maß selbst in der Hand, wie ich mich in der Öffentlichkeit darstellen möchte. Diese Unsicherheit von der Sie sprechen empfinde ich daher eher als Freiheit.

nmz: Musik und Musikmachen sind politisch, ob man will oder nicht. Denn man befindet sich ja im Gesamtgefüge einer Gesellschaft, partizipiert daran und positioniert sich darin. Wo sehen Sie sich in diesem Kräftespiel, als Komponistin, als Performerin, als Staatsbürgerin, als Steuerzahlerin?

Mihály: Naja, ich habe als Künstlerin das Privileg der Aufmerksamkeit zumindest einer bestimmten Zuhörerschaft. Dadurch kann ich in meinen Stücken mit den mir zur Verfügung stehenden Ausdrucksmöglichkeiten gezielt auf gesellschaftsrelevante Themen hinweisen. Dennoch bin ich mir der eher eingeschränkten Breitenwirkung des Nischen-Biotops Neue Musik in der Gesellschaft bewusst.

„Verstörung“ kann ja ein Wachrütteln sein und Irritation regt zum Denken an

nmz: Aktuell treten gesellschaftliche Spannungen deutlich an die Oberfläche, die bislang zwar auch schon vorhanden waren, aber etwas verdeckt. Von vielen Seiten wird gewünscht, dass Künstlerinnen sich offen zu Demokratie und freiheitlich-demokratischer Grundordnung bekennen. Zum Beispiel mit dem Hashtag #wirsindmehr. Die Neue-Musik-Szene ist aber eher gar nicht „mehr“, sondern weniger. Aktuelle engagierte Kunst hat doch eher einen (Ver-)Störungscharakter als einen, bei dem es darum ginge, die Reihen zu schließen. Ist das ein Widerspruch?

Mihály: „Verstörung“ kann ja ein Wachrütteln sein und Irritation regt zum Denken an. Neue Musik hat keine Macht zur Massenmobilisierung. Das muss sie auch nicht, genauso wenig, wie sie nicht als Werkzeug irgendeiner Propaganda (egal, in welche politische Richtung!) funktionieren muss. Das können Helene Fischer oder Die Toten Hosen besser, weil sie sich einer konkreten Sprache bedienen, die von mehr Menschen ohne spezielle akademische Fachausbildung verstanden werden und mit einfachen Aussagen ein breites Publikum erreichen kann. Natürlich ist es wichtig, gerade in gesellschaftspolitisch schwierigen Zeiten Stellung zu beziehen. Ich sehe aber auch ein gewisses Gefahrenpotenzial von massenwirksamer Agitationspropaganda und genieße solche Aufrufe grundsätzlich eher mit Vorsicht.

Dennoch, Hannah Arendt hat es einst sehr treffend formuliert: „Über Macht verfügt niemals ein Einzelner, sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur so lange existent, als die Gruppe zusammenhält. (…) Stärke, im Gegensatz zu Macht, kommt immer einem Einzelnen, sei es ein Ding oder einer Person zu.“ Von daher sehe ich in der Neuen Musik auf jeden Fall das Potenzial der Stärke einzelner Künstlerinnen und Künstler, Denkanstöße zu geben und aktuell gesellschaftspolitische Strömungen zu hinterfragen, um sich als „Störung“ im positiven Sinne zu positionieren.

nmz: In einem ihrer Imagefotos essen Sie Tonbandsalat. Hassen Sie in Wirklichkeit Technik?

Mihály: Hahaha … nein, auf keinen Fall! Das Magnetband ist ja assoziativ gemeint. Es steht für musikalische Einflüsse, die ich zu mir nehme und von denen inspiriert ich dann eigene künstlerische Projekte realisiere. Und mit dem Magnetband ist auch sofort die Verbindung zur Elektronik da. Man kann das Bild also so lesen, dass ich Kontrolle über die Elektronik habe, mit der ich umgehe.

nmz: Die Jazzmentorin Pannonica de Koenigswarter hat Jazzmusiker in den 50er- und 60er-Jahren nach ihren drei Wünschen gefragt. Was antworten Sie: Was wären Ihre drei Wünsche?

Mihály: Vielleicht Weltfrieden, Gummibärchen und Schampus für alle? …das ganz sicher, aber für mich: immer einen freien Kopf, Abstand zu mir selbst und Standhaftigkeit bei Gegenwind behalten zu können.


Zuerst erschienen in nmz Ausgabe: 10/2018 – 67. Jahrgang