29. März 2024 Guten Tag, everybody

Polarisieren statt spalten – Kein Legato ist illegal

Der Skandal gehört zur Kunst wie die Polemik zur Kunstkritik. Auch das Starwesen gehört in unserer Zeit nach wie vor dazu wie die Installation von Kritiker*innen-Päpst*innen seitens der Tages-, Publikums- und Fachpresse. Künstler*innen werden hochgejazzt und heruntergeschrieben. Das Ganze nennt sich Kunstzirkus und dient dem Geschäft – manchmal auch dem Kunstgenuss oder der Kunsterkenntnis.

Was darf man sich eigentlich von Kunst mehr wünschen, als dass sie zu Diskussionen anregt, zu Widerspruch und/oder zu Zustimmung aufruft? Wie langweilig wäre es doch, wenn man stattdessen vor Kunstwerken nur in Ehrfurcht erstarrte oder sie in Grund und Boden verdammte. Man kann an Wagner seine Orchesterbehandlung bewundern und ihn gleichzeitig für seinen Antisemitismus verachten. Künstler*innen sind keine Heiligen, die meisten Menschen sind dies nicht. Wenn auch manche musikalische Kunstwerke geradezu zu Denkmälern stilisiert werden, sind sie mehr als trockene und tote Daten auf Papier.

Wo Musik durch Aufführungen verlebendigt wird, wird sie zu einer ästhetischen Hypothese. Wäre es anders, bräuchte man von musikalischen Darbietungen nur eine einzige Referenz, die die künstlerische Wahrheit für alle Ewigkeiten darböte. Musikalische Interpretationen bieten so fortwährenden Anlass für Diskussionen und bisweilen auch Streit. Interpretationen sind dabei natürlich immer mehr als nur klingende Dokumente. Das ist alles nichts Neues. Neu ist allenfalls, dass ein einzelner Text einer missratenen Kunstkritik eine verkettete Reaktion von Empörungsmaschinchen der Öffentlichkeit auslösen konnte, an der sich Chefredakteur*innen, Kolumnist*innen, Philosoph*innen und sogar Kultur- und Musikrät*innen beteiligen, sei es durch Wort, Gegenrede, Schweigen oder durch Abstimmung mit ein paar Twitterlikes. Das ganze Arsenal der Untergangslyrik der Kulturkritik wurde dabei aufgefahren, und das reichte von der Gefährdung der Presse- und Meinungsfreiheit bis hin zum Vorwurf eines angeblich manifesten Antisemitismus eines in fachlicher, sprachlicher und sachlicher Hinsicht deutlich überforderten Autors samt seiner Zeitungsredaktion, die diesem evidenzverarmtem Unfug ein Forum bot. Statt die Angelegenheit als umfallenden Sack Reis einer Münchner Tageszeitung zu sehen, polterte man beim analogen oder digitalen Seitenaufschlag im Feuilleton eines traditionsgeschwängerten Zentralorgans publizistischer deutscher Öffentlichkeit hinein in einen Meinungsorkan in Twitterhausen und Facebook-City. Statt stiller Post spielte man robust brüllendes Dosentelefon ohne Anschluss am Ende der Leitung. Niemand hörte mehr zu, alle schrien wild um sich.

Ein bisschen mentale und mediale Abrüstung würde allen gut zu Gesicht stehen. Was man nämlich sehen konnte, ist nichts anderes als ein fast schon mit militärischer Konsequenz durchgeführtes Ressentiment-Manöver um die Hoheit im System der Kunstöffentlichkeit. Dabei geht es dann – das ist das Absurde daran – gar nicht mehr um Kunst, sondern um die kunstausübende Person im öffentlichen Raum. Absurd ist es deshalb, weil die Öffentlichkeitswerdung der Kunstproduktion mehr Raum beansprucht als das Kunstwerk und seine Reproduktion selbst. Oder ganz banal gesagt: Es geht darum, wie man Stars macht und wie sie wurden, was sie sind.

Stars von heute sind Kulturpakete aus Klang und Person

Längst reicht dafür nicht mehr eine vernünftige musikalische und geistig beseelte Technik. Stars von heute sind Kulturpakete aus Klang und Person. Dieter Kühn hat das einmal mit seiner Kunstfigur des „großen Tartarow“ auf die Spitze getrieben, indem er einen Star künstlich erzeugte, mit allen Mitteln der Kunstmarkttäuschung. Igor Levit ist genau ebenso ein Produkt des Kunstmarktes wie auch die barfuß spielende Geigerin, der cholerische Dirigent, das parfümierte Streichquartett oder eben der twitternde Pianist. Umgekehrt geht es auch: So wie es diejenigen gibt, die den Kontakt zur Öffentlichkeit suchen, gibt es diejenigen, die diese meiden wie der Teufel das Weihwasser wie zum Beispiel Giacinto Scelsi oder Kirill Petrenko. Der Effekt – man höre, sehe und staune – ist der nämliche. Nur ist alles etwas mysteriöser und weckt auf diese Weise ebenso die Neugier und damit den Motor öffentlichen Interesses.

Was ist daran so erstaunlich? So funktioniert der Kunstmarkt, so funktioniert die Musikindustrie. Der Mensch will getäuscht werden. Und sogar getäuscht werden über diese Täuschung selbst.

Was treibt eine*n Künstler*in also in die mediale Öffentlichkeit? Vielleicht ist es einfach die Hoffnung, etwas anderes zu bewegen als eben nur Luftmoleküle in Funktion der Diener*innenschaft von Komponist*innen. Interpret*innen brauchen dafür Wahnsinn, Twitter oder eine gute Marketingabteilung ihrer Plattenfirma und mitlaufende Medien sowie Fans. Wenn alles gut geht, kommt es dabei zu einer produktiven, respektvollen Polarisierung beim Umgang mit den Kunst- und Politikphänomenen der Gegenwart, an der sich viele beteiligen können. Wenn man es falsch anstellt, entsteht bloß unnützer Streit im Raum sozialer Kommunikationssysteme und daraus folgend gesellschaftliche Spaltung. Polarisierung: ja – Spaltung: nein. Levit spaltet nicht, Levit polarisiert. Schlechte Polemik spaltet.


Quelle: Ausgabe: nmz 11/2020 – 69. Jahrgang