Immer wieder schreibt der Herausgeber der nmz, Theo Geißler, dass der qualitative Begriff der Kultur durch den Begriff der „Zahlengesteuertheit“ verdrängt wird. Und er macht dies an der Börsenorientiertheit, an der Verdrehung von meinetwegen musikalischer Qualität zu allein quantitativ besetzten Wahrnehmungsrechtsgeschäften aus. Im Musikmagazin „Taktlos“ führt er eine Diskussion zum Thema „Quote als Intendant“. Zahlen hier, Zahlen dort, die öffentliche Meinung besteht aus Zahlen, Daten und messbaren Fakten. Schaut man sich einmal im Wissenschaftsbetrieb um, so findet man das gleiche Bild vor. In der Psychologie geht es doch längst nicht mehr um die Seele, in der Musikwissenschaft nicht um Musik. Auch die Soziologen verstecken sich lieber hinter statistischen Erhebungen.
Es ist nun keine neue Erkenntnis, dass Datenerhebungen sehr nützlich sein können. Aber solche Datenerhebungen sind in der Regel Nacherhebungen. Das heißt man bekommt heraus, dass beispielsweise mehr Popmusik im Fernsehen gesendet wird als sogenannte klassische Musik. Und man bekommt heraus, dass mehr Popmusik im Fernsehen anschaut wird als sogenannte klassische Musik. Dann beginnt die Frage nach dem Primat der Erkenntnis: Die Frage, was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Sind die Folgerungen aus der einen Datenerhebung Grund für die Fakten aus der anderen? Keiner kann es genau sagen. Das interessiert eigentlich niemanden. Denn das würde Fragen zur qualitativen Aufarbeitung dieser Phänomene aufwerfen – und das ist erstens nicht pragmatisch und zweitens ideologisch verbrämt. Lieber lobt man sich seinen Zahlenrationalismus als eine Geistesmetaphysik. In Anlehnung von Verkehrung Wittgensteins könnte man sagen: „Die Welt ist alles was ‘ne Zahl ist.“
Man hat dabei den Punkt erreicht in dem Markt- und Meinungsforschung zusammenfallen. Die öffentliche Meinung ist ein Markt im wirtschaftlichen Sinne geworden, der eine datenerprobte Meinung geliefert wird. Hier ist eine normativ-kritische Gesellschaftstheorie nicht erwünscht. Gleichwohl kommt es zu normativen Handlungsaspekten in einem ganz vulgären Sinne. Ist das Publikum (der Marktplatz der öffentlichen Meinung) erst einmal genügend beliefert, wird es zum Spielball der Interessen von Wirtschaft und Politik. Das wird es umso mehr, je weniger die transportierten Meinungen noch substantielle Gedanken beinhalten und je mehr es geistig und physisch fragmentiert wurde. So streitet man sich gerne tagelang über einen Trainerwechsel bei einem Fußballverein und kennt sich bestens mit der Abseitsfalle aus. Wem wollte man es vorwerfen? Der vetrottelten Öffentlichkeit etwa, die ja keine mehr ist? Den alten und neuen Medien möglicherweise, denen Trotteleinschaltzahlen ihre Existenz sichern? Der Politik, die sich von Trotteln wählen läßt? Dem Bildungssystem vielleicht, das diese Trottel, Opportunisten und Angsthasen regelrecht produziert? Jean-Paul Sartre sagte in dem Gespräch „Der neue Gedanke des Mai ‘68″: „Der Student von heute ist jemand, den man vollstopft, ähnlich wie man Gänse mästet, mit einem ganz genau ausgerichteten Wissen, das ihm ganz bestimmte Kompetenzen geben soll. Und diese falsche Kultur empfängt er nicht einmal in Luxus und Muße – zahlreiche Studenten haben ein ganz schwieriges Leben –, sondern in der Angst, weil er nie weiß, ob er nicht doch in einigen Jahren durch ein Ausleseverfahren gnadenlos ausscheiden wird, das dazu gedacht ist, aus der Masse lediglich eine kleine Führungselite auszusondern.“ Und heute kann man anfügen, wen man nicht vollstopfen kann, den stopft man leer.
Das alles ist nichts anderes als das Resultat einer Kultur, die sich zur Orientierung den Polarstern der Quantität ausgesucht hat. Wer dagegen um qualitative Erkenntnisse bemüht, wer diese Kulturformen infrage zu stellen sich traut, den bestraft das Leben. Der steht in diesem Abseits, das alle zu kennen eingeimpft bekommen haben. Die Geschichte der Bundesrepublik ist reich an Beispielen dieser regressiven Prozesse. Waren die „Musica“ oder die „Zeitschrift für Musikpädagogik“ denn ein großer Bockmist? Nein, das waren sie nicht. Im Gegenteil, sie waren zu gut für eine Öffentlichkeit, die sich langsam aber sicher auflöste. So ergeht es auch manchem Verlag, der nicht in den Medienklüngel sich eingliedern ließ und manch anderer Zeitschrift, mancher Fernsehsendung, manchem Radioprogramm. Ihr Publikum setzte sich am Ende nur aus jenen zusammen, die dieses gesamtgesellschaftliche Ausleseverfahren überlebt haben und ihm widersprachen. Diese Zahl wird nicht größer, sondern offenbar kleiner.
Das schlimmste an diesem Prozess ist, dass zahlreiche Menschen, die es besser wissen müssten, sich ihm Untertan machen. Das findet man traurigerweise bei Universitätsprofessoren, aber vor allem bei den Funktionären der Kulturorganisationen. Die Kraft zur utopischen Konsequenz weicht dem Konformismus gegenüber vermeintlich stärkerer gesellschaftlicher Gruppen oder Traditionen. Wie oft kann man hören, „das ist ja schön gemeint, aber so sei die Welt nun einmal nicht.“ Oder die sogenannten Öffentlichkeitsarbeiter, zum Beispiel an den Opernhäusern. Offenbar kommt man weiter, wenn man sein Opernhaus mit dem Namen des Generalmusikdirektors zentral identifiziert oder auf traditionelle Funktionen setzt: „Man gehe einfach in die Oper, das gehöre zum guten Ton.“ Das mag ja funktionieren, aber ist es denn richtig? Nicht nur Sex sondern auch Personality sells. Aber bitte was verkauft man denn da? Ist nicht vielmehr richtig, dass man auf diese Weise einzig und allein den Zerfall mit Mitteln rudimentärer Argumentationen kurzfristig aufhält. „Ach was“, würde Vico von Bülow (alias Loriot) sagen. Ein Miesepeter sei man und man solle doch gefälligst erst einmal zeigen, wie man es denn besser mache. Kein Problem, schlechter machen kann man es sowieso besser. Macht die Oper zu und ‘ne Kneipe mit Table-Dance auf. Wäre doch originell, wenn einem eine Operndiva (klar, die 500.000 DM Gage kann sie sich abschminken, ansonsten kann ‘se Schminke ganz gut vertragen) aus Puccini singt und dabei die Abseitsfalle erklärt. Da hätten alle was davon. Die Berliner Philharmoniker (siehe den Leitartikel Gerhard Rohdes in der letzten Ausgabe der nmz) sind da schon mehr als nur ein Symptom.
Letztes Beispiel Internet: Man lobt es über den grünen Klee als das Medium der zukünftigen Wissensgesellschaft. Doch Jürgen Kuri verweist in der Computerzeitschrift „ct“ (Nr. 21/1999) auf Fachleute, die behaupten, daß „rund 80 Prozent des gesamtem Datenverkehrs im Netz … pornografische Inhalte betreffen“. Was ist denn daraus die Konsequenz? Sollen die Universitäten Lehrstühle für den Fachbereich „Pornologie“ bereitstellen? Braucht die nmz Fleischbilder auf Seite Drei? Das wäre absurd? Ist es nicht, denn die Pornografie hat ja längst die Gehirne in Form der Prostitution des Geistes erreicht. Man jagt aber weiterhin den Zahlen hinterher, Pentium I, II, III (60, 90, 266, 500 Megahertz) in der Hoffnung, Zeit zu sparen und gewinnt doch kaum eine Minute dazu. Das furiose Zauberwort „technischer Fortschritt“ macht die Welt nicht herrschaftsfreier und der schönste Datenstrom kann keine Konzerterfahrung ersetzen. Man hat jetzt ganz einfach nur mehr digitale Stammtische und lobt dies als „Erweiterung des Kommunikationsraumes.“
Man muss sich da nichts mehr vormachen. Die heutigen Träger des neuen Intellektualismus sind die Wirtschaftswissenschaftler, die Juristen, die Beratergarnisonen und Politiker, die glauben, dass eine politische Staatsverfassung wie ein Automobilkonzern zu führen ist. In einer Gesellschaft, die sich hauptsächlich über ihr Rechtssystem, ihre Wirtschaft und ihren technologischen Status definiert, kommt dem qualitativen Kulturverständnis meistens nur noch die Funktion der emotionalen Nischenbildung zu oder der einer historischen und privaten Entlastung. Die Welt wird bunter, aber die grauen Zellen werden immer grauer.
Quelle: Leitartikel aus neue musikzeitung 1999/11