Man weiß mittlerweile, dass es ein Scherz gewesen sein soll. Eine Rathausanwohnerin in Limburg beklagte sich darüber, dass im Glockenspiel des Rathauses die Melodie zu „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ gespielt wurde. Als Veganerin könne sie das nicht ertragen. Daraufhin entbrannte ein veritabler Shitstorm, der dazu geführt hat, dass die Klägerin heftig bedroht wurde. Das geht gar nicht. Die Gereiztheit ist spürbar, auf beiden Seiten. Aber auch der Scherz selbst war schlecht gedacht und schlecht gemacht. Gibt es denn so etwas wie vegane oder vegetarische Musik? Mal ernsthaft gefragt.
Darf man als Veganer oder Vegetarier Darmsaiten auf Streichinstrumente aufziehen? Und weiter: Was hat ein Frosch am Geigenbogen mit seinen mongolischen Rosshaaren verloren, wieviel Fell verträgt eine Trommel, wie bekommen wir das Elfenbein aus Instrumenten und das Perlmutt von Klappen, was machen wir mit Lederbezügen? Synthetisch dürfte irgendwie alles herstellbar sein, mit Chemie kann man doch fast alles ersetzen – egal, wie viel Schaden dadurch der Natur entsteht. Musik ohne Material von Tieren geht fast nicht. Aber Schall, einfache Töne, sind die nun „vegan“ oder nicht?
Die Frage, die sich dahinter insgeheim verbirgt ist nämlich gar nicht trivial: Hinter der Frage, ob es so etwas wie „vegane Musik“ gäbe, steht die grundsätzliche Frage, wie unschuldig Musik oder Musikmachen tatsächlich ist. Wie sehr kann Musik Menschen oder deren Befindlichkeiten verletzten? „Hate Speech“ ist ein fester Begriff in Soziologie und Philosophie. Aber „Hate Music“?
Wer heutzutage ein Musiktheaterwerk samt Inszenierung besucht, ist schnell mal betroffen. So betroffen, dass der Arzt kommen muss – man erinnert sich in diesem Zusammenhang an einen Tannhäuser in Düsseldorf im Jahr 2013, der abgesetzt worden ist, oder an eine Czardasfürstin in Dresden im Jahr 2000, die für einige Unruhe sorgte. Wenn man sich Reaktionen auf aktuelle (Musik-)Theaterproduktionen ansieht, wähnt man sich eher im Sprachkrieg als im Bildungsbürgertum. Einzelne Gruppen fühlen sich gerne missverstanden. Reaktionen auf Tatort-Produktionen dokumentieren das eindrücklich. Im Giftschrank landete beispielsweise: „Wem Ehre gebührt“ (NDR, 23. Dezember 2007). Der Vorwurf damals, er schüre Vorurteile gegen die alevitische Glaubensgemeinschaft und verletze religiöse Gefühle. Neulich sei bei einem Dresdner Tatort die Volksmusik-Szene (eher die der volkstümlichen Musik) durch den Kakao gezogen worden. Heino und Co reagierten gereizt.
Erinnern muss man auch an eine Aktion der Komponistin Maria de Alvear aus dem Jahr 1993 und ihr Stück „En espiritu de rosas raices no. 4 für drei Vokalsolistinnen, Klarinette, Posaune, Harfe und drei Violinen und einen toten Hirsch“. Ein Stück, das den Kölner Tierschutzverein auf den Plan rief, weil ja Tiere zum Verzehr vorgesehen sind. Nur wenn ein Tier nach seinem Tod verspeist wird, sei sein Tod vernünftig und sinnvoll, lautete die Gesetzesinterpretation des Staatsanwalts. In zweiter Instanz vor dem Landgericht Köln handelte sich die Komponistin schließlich eine Verwarnung ein. Begründung des Richters: „Der Kunst müssen Grenzen gesetzt werden.“ Da haben wir den Wurst-Salat. Kunst mag ja irgendwas transzendieren, darf dabei aber manche Grenze nicht überschreiten. Zumindest sah es der Richter in diesem Fall so.
Besorgte Gesetzeshüter, Bürger und Hörer also, wohin man sieht. Persönliche Befindlichkeiten werden hochgekocht. Die Nerven liegen blank. Das ist alles schon schlimm, aber was wäre die Alternative? Soll man wieder Zensoren einstellen, die alle Stoffe auf ihre Wirkung hin abfragen und im Zweifel die künstlerischen „Bomben“ und „Blindgänger“ entschärfen? Der Musikphilosoph Heinz-Klaus Metzger schrieb 1961 in dem Artikel „Über die Verantwortung des Komponisten“: „Kunst ist weder Nährmittelproduktion noch Verkehrstechnik noch Medizin. Ihre Domäne ist nicht Verantwortung, sondern Frivolität.“ Diese jedoch wird zunehmend eingeengt, weil sich zunehmend immer mehr Menschen durch Kunst verletzt fühlen. Mimosen allüberall. Wo ist eigentlich die entspannte, kontemplative, kritisch-aufgeweckte, humorvoll-freundliche und libidinös-aktive Haltung der Kunst gegenüber hin?
Es geht zwar in der Kunst immer um Leben und Tod, aber es ist doch nur Kunst, die bringt normalerweise keinen um, höchstens beleidigt sie einmal unser Dummheit oder Intelligenz. Eine Backwarenfachverkäuferin aus der Schorfheide hat das wunderbar pragmatisch auf den Punkt gebracht. Gefragt nach dem Geschmack eines Veggie-Brotes, antwortete sie: „Das schmeckt auch gut mit Leberwurst.“
Zuerst erschienen in nmz 2017/03