13. Dezember 2024 Guten Tag, everybody

Komplizenschaft im Nebel – Das Solistenensemble Kaleidoskop im Berliner Radialsystem V

Das Solistenensemble Kaleidoskop bestreitet keine „normalen“ Konzerte. Es „performt“. Das heißt, es setzt seine Konzertdramaturgie fein abgestimmt auf die Werke und ihre Kombination im räumlichen und klanglichen Zusammenhang ein. Das geht mal schlechter auf, mal besser. Bei ihrem Abend „Fort / Da III – Unboxed (Clear Sky Remix) “ hat alles gestimmt.

Wobei der Titel wahrscheinlich eher zu verwirren vermag, als dass er etwas klärte. In jedem Fall bringt er die Sache in sprachliche Mode und psychoanalytische Verästelungen („Fort / Da“-Bezug: Siegmund Freud, Jenseits des Lustprinzips), „Remix“ (DJ-Culture) und „Unboxed“ (Öffentliches Auspacken gekaufter oder geschenkter Gegenstände). Man kann auch ohne den eigenartigen Titel an die Sache herankommen.

Zu Anfang betritt das Publikum den großen Saal des Radialsystem V Berlin. Weiße Hocker stehen willkürlich angeordnet im Raum, auch ein paar Stühle am Rande. Nüchtern weißes, geradezu technisches Licht in einem ungeschmückten Raum.

Impuls

Am Pult steht Rashad Becker, der über die Lautsprecher sein Werk „o.T.“ zur Uraufführung bringt. Mittendrin im Sitzgewürfel auch einige Musikerinnen des Ensembles, sie schwingen körperlich in dem Ton- und Klangimpuls-Gewirr mit, bewegen die Instrumente dabei mehr oder weniger. Man wartet und ist mittendrin. Die Sounds sind ebenfalls eher nüchtern, ein bisschen hört man Grundtonbezogenheit, gegen Ende dünnt es aus, Schwebungen im mikrotonalen Bereich scheinen mehr zur Vorbereitung zu tönen, als für sich selbst. Nach dem Abklang verlassen die Musikerinnen den Raum durch eine Seitentür. Nicht, ohne Anzeichen zu geben, dass das Publikum doch folgen möge. Aus der Tür dringt dabei so etwas wie Nebel.

Nebel

Und dann geht man durch die Tür und steht in diesem Raum, der ebenfalls durch weißes Licht von oben und teilweise auch vom Boden her beleuchtet wird. Ein Nebel, der kaum eine Sicht von mehr als drei Metern zulässt dämpft das Licht, macht es diffus, weich und auch unheimlich zugleich. Die wirkliche Größe des Raumes ist auf diese Weise nicht erahnbar. Den Raum selbst teilen von der Decke bis auf den Boden hängende weiße, halbdurchsichtige Folien und erzeugen dabei das Gefühl einer labyrinthischen Raumstruktur. Zusammen mit der beschränkten Sichtweite kann das durchaus beklemmend wirken, vielleicht sogar klaustrophobische Gefühle auslösen. Offenbar stimmt aber die Lichtraumsicht-Dosis. Allein der Boden ist aus im Vergleich strukturiert dunklem Holz (denkbar, dass dies in letzter Konsequenz konzeptstörend wirkt). Man sucht in diesem Raum nach irgendetwas oder auch nichts. Die Menschen bewegen sich wie in einem Zwischenreich. Ein paar Hocker sind irgendwann und irgendwo auszumachen. Man setzt sich oder setzt sich nicht. Man steht, liegt oder geht. Nach einer kurzen (Des)Orientierungszeit erklingt von irgendwo Salvatore Sciarrino „Ai limite della notte“ von 1979 für Viola sola (Ildiko Ludwig): „An den Grenzen zur Nacht“ – an den Grenzen des Hörbereichs. An den Grenzen der Sichtbarkeit. Atemgeräusche (?) beschallen dazu von woanders. Der noch bei vielen durch den Raum suchende Trittschall erzeugt dazu einen eigensinnigen Rhythmus. Nichts wirkt konkret, vieles vage.

Zerfall

Danach kommen Passagen aus dem Streichtrio in B-Dur, D 581, von Franz Schubert zum Klingen, die Musikerinnen getrennt im Raum verteilt. Es wird still dabei und ruhig. Die Schubertpassagen, die im Laufe ihrer Existenz zerfallen (die Musik entfädelt sich), binden die Hörbereitschaft auf der Stelle stärker und enttäuschen sie zugleich. Es gibt etwa fünf mal so einen Kurzanlauf mit Zerfallskurve des Schubert-Textes mit gleichwohl plötzlichem Abbruch.

Dann durchbricht, im Tonfall pointiert, klangscharf Lisa Bielawas „Finally“ (aus Kafka-Songs) von 2001-2003 für Stimme und Violine den Raum. Ein spielerisches, in diesem Zusammenhang geradezu folkloristisch anmutendes Stück nach Art einer Jagdszene.

Fokus

Lautes Saitenschnalzen markiert die wohl zwischen 30 und 45 Minuten andauernde Uraufführung von Sebastian Clarens „Saturn A“ für Cello solo (Tilman Kanitz). Ein Stück bei dem eine Vielzahl von Tonerzeugungsvarianten mit im Spiel sind. Jetzt geht das Konzept des Abends komplett auf: Der Nebel und die Folien und die vorhergehenden Stücke führen zu einer veränderten  Hörweise – der akustische Brennpunkt verlagert sich. Gleichzeitig setzt es im Publikum Neugier frei und bringt es in Bewegung auf der Suche nach der Klangquelle. Bei anderen – wie mir – schafft es eine neue Art konzentrierten Hörens. Wie weit der Nebel dazu auch die Raumakustik verändert hat, ist schwer zu sagen. Das Stück ist eine Studie in außerordentlicher Klangerzeugung an diesem Instrument, das man, wenn man es nicht zugleich sieht, nicht zwingend als Cello erkennen würde. Gegen den Klang seiner instrumentalen Kulturgeschichte prägt es den Raum mal mit knirschenden, bald impulsartigen Passagen und allem, was sonst möglich ist. Und klammert sich damit dann eben doch an die elektroakustische Aufführung von Rashad Becker zu Beginn. Gewollt oder ungewollt: Einerlei.

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Das Konzept geht gerade dann auf, wenn man sich dieses Stück im traditionellen Zusammenhang denken würde. Also mit Bühne für den Musiker und Saal für das Publikum. Die konfrontative Situation hätte etwas von Schaulustigkeit, von Fokussierung auf vorhandene oder abwesende Virtuosität. Im Nebelweiß des Radialsystems fühlt man sich aber eher als Komplize der Musik selbst, wenn nicht gar als ein Teil der selben – nur in einem anderen Aggregatzustand, wenn man so will. Das meint es wohl, wenn man sagt, Inszenierung und Werk verschmelzen. Und das ist gut! Das macht aus dem ganzen Vorgang ein „theatre instrumentale concrète“.

Den Übergang zur nächsten Passage erzeugen noch während Clarens Stück die anderen Musikerinnen, wenn sie den Instrumentenbogenfrosch über den Boden nach sich ziehen, während Teile der raumbildenden und -teilenden Folien heruntergerissen werden und als Plastikknäuel den Raum nun neu formen. Wieder ertönt das Streichtrio von Schubert, etwas weitergehend und im „richtigen“ Tempo, doch nie vollständig, immer wieder doch abbrechend, während eine weitere Musikerin vergnügt durch den Raum, die Musikerinnen und das Publikum hüpft. Die Musik Schuberts ist auch danach. So dass endlich eben auch die Musizierenden mittanzen.

Komplexe Komplizen

Fast lapidar dann zum Ende Pauline Oliveros „Song for Margrit (1997) für Stimme. „I am listening to you“ ist der kurze Text dieses Stücks, das in konkreter Reaktion auf die Anwesenheit des Publikums reagieren soll. Lapidar einerseits, andererseits doch anzeigend, dass das Publikum dann doch auch ebenso Teil der Inszenierung ist. Seine Komplizenschaft wird durch die Dramaturgie erzeugt und ist unabdingbar: Akustisch durch seine Bewegungen, optisch als eine in Bewegung seiende Schreitskulptur, auch im Schattenwurf an den Folien. Die eigenartige Gedämpftheit des Raumes, der die Menschen verschwinden und an anderer Stelle auftauchen lässt, wird zum Totalprodukt. Ohne Publikum, zum Beispiel in einer „objektiven“ Draufsicht, ergäbe das alles keinen Sinn. Es ist alles aufgegangen.

Großer Beifall beim etwa 50-köpfigen Publikum für die Musikerinnen des Solistenensembles Kaleidoskop, dem Raumkonzept (Tilman Kanitz, Arnaud Poumarat [auch Licht] und Lyllie Rouvière [auch Choreografie]) und dem ganzen Team.

„Aktuell informierte Musikpraxis“

Während man bei manchen Performances häufig genug das Gefühl hat, dass da eine Art Überstülpung probiert wird, ist bei den Aufführungen des Solistensensembles Kaleidoskop das alles im Ganzen gedacht, es ist alles untrennbar ineinandergewoben. Der „historisch informierten Aufführungspraxis“ hat man in den letzten 50 Jahren viel zu danken gehabt, es wäre nicht ganz falsch, stünde dem eine auch „aktuell informierte“ zur Seite. Gerade nicht als Aufguss alter, sondern ganz neuer Konzerterfahrungen. Ohne künstlich gesetztes oder historisch aufgewärmtes Brimborium. So wie im Radialsystem V bei „Fort / Da III“ könnte es sein.


Zuerst erschienen bei nmz-online am 10. Juli 2018