Es ist ziemlich genau 100 Jahre her, als Bruno Jasienski am 21. April 1921 seinen Aufruf „An das polnische Volk. Manifest in Sachen der sofortigen Futurisierung des Leben“ veröffentlicht hat. Da lag Europa gerade zu Boden, die Folgen des Ersten Weltkriegs und der Ausbreitung der Spanischen Grippe haben auch die Kulturlandschaft zerfurcht. Aufbruch, Restauration und neue Dekadenz starteten zeitgleich. Jasienski stellte nüchtern fest: „Eine Kunst, die in Konzertsälen, Ausstellungen, Kunstpalästen usw., die für einige hundert oder sogar einige tausend Menschen geschaffen worden sind, beherbergt ist, stellt ein lächerliches, anämisches Kuriosum dar, denn sie erreicht nur 1/1.000.000.000 aller Menschen.“ Daran hat sich bis heute nicht viel geändert, aber doch einiges.
Doch weiter Jasienski: „Der moderne Mensch hat keine Zeit, um Konzerte und Ausstellungen zu besuchen, 3/4 der Menschheit hat nicht die Möglichkeit dazu. Deshalb muß sie die Kunst überall finden können.“ Was er sich darunter vorgestellt hat? „Fliegende Poesiekonzerte und Konzerte in Zügen, Straßenbahnen, Kantinen, Fabriken, Cafés, auf Plätzen, Bahnhöfen, in Hallen, Passagen, Parks, auf Häuserbalkonen usw. usw. usw. zu jeder Tages- und Nachtzeit.“ Im Musikbereich wäre das durchaus auch so etwas wie Muzak als Avantgarde. Saties Idee einer Musique d’Ameublement hätte da ein ähnliches ästhetisches Ziel, für andere ist die Welt Klang (Joachim Ernst Behrendt) und einem anderen kann alles zur Musik werden (John Cage). Und das Umgekehrte gilt auch, wenn Jasienski sagt: „Jeder kann Künstler sein.“
Heute, wo die Konzertsäle und Kunstpaläste im Dienste der Pandemieeindämmung eher geschlossen als geöffnet sind, werden zuweilen ähnliche Prinzipien intensiv verfolgt: 1:1-Konzerte, Balkon-Konzerte, in besseren Zeiten auch schon mal Flash-Mobs. Ein weiteres gegen Kunstarmut gibt es in Deutschland ebenso seit ziemlich genau 100 Jahren: den Rundfunk. Er berieselt uns heute, wie bei Jasienski angedacht, Tag und Nacht und an jedem Orte, damals über Mittel-, Lang- und Kurzwelle amplitudenmoduliert, gelegentlich unter Nutzung von atmosphärischen Reflexionen über den ganzen Kontinent, heute über Satelliten oder das Internet – sofern Strom und Geräte zur Verfügung stehen. Statt über Stunden oder Tage sich auf die Reise zu begeben, ist es heute mit wenigen Mitteln möglich, an Konzerten oder Konferenzen über Videosoftware globusweit teilzunehmen.
Jasienski geht aber noch einen Schritt weiter. Nicht nur sieht er überall Platz und Raum für Kunst und Künstler, er weist ihm auch eine präzise hochstehende Position im gesellschaftlichen Ganzen zu: „Der Künstler ist genauso ein Volksvertreter wie der Abgeordnete; er verfügt nur über einen anderen Aktivitätsbereich und andere Kompetenzen.“ Künstler*innen sind eben nicht systemrelevant, sie sind fest eingebaut und verankert im poltisch-gesellschaftlichen System selbst. Oder sollten es nach Ansicht Jasienskis sein.
Darin liegt genau der Unterschied zu den Kunstmogulen, die „die“ Kultur für sich reklamieren und sie einhegen wollen in ihren Kunstpalästen wie der Münchener Staatsopernintendant Nikolaus Bachler. Dieser prophetet ob des erzwungenen Lockdowns seiner Institution in geradezu apokalyptischer Dekadenz: „Wenn wir da nicht bald Änderungen bekommen, werden da Wüsteneien und Ödnisse entstehen, von denen wir uns jahrelang nicht erholen werden.“ Er versteigt sich gar zur Aussage: „Nach einem Jahr mehr oder minder Lockdown bin ich der Überzeugung, dass wir uns mit Riesenschritten auf eine kulturelle Klimakatastrophe zubewegen.“ Was er nicht sieht: Er selbst und sein elitäres Kunstsystem sind selbst auch ein Grund dafür.
Eine jüngst in Berlin herausgegebene Studie zum Thema kultureller Teilhabe besagt: 40 Prozent der Befragten seien mit dem kulturellen Angebot im direkten Wohnumfeld nicht zufrieden. 64 Prozent der Menschen, die klassische Kulturangebote nicht besucht haben, nennen als Besuchsanreiz, sie müssten mehr Geld für diese Angebote zur Verfügung haben. Datum der Umfrage 2019, also lange vor der Pandemie.
Kunst verbindet nicht nur, sondern, das wissen wir aus der soziologischen Forschung, trennt soziale Gruppen auch. Wenn in Berlin als „Gegenmaßnahme“ darauf verwiesen wird, dass man einmal im Monat bei freiem Eintritt den Zugang zu städtischen Museen plane, sieht man, wie hilflos hier gegengesteuert wird. Das Zugangsproblem ist überdies nicht allein finanzieller oder zeitlicher Natur, es ist auch das ganze Kulturgehabe, selbst noch bei neuen Präsentationsformen von Konzerten.
Ein bisschen Futurismus also in die Gegenwart fortgesponnen, könnte es für den Musikbereich wenigstens heißen: Jedem Menschen eine Impfung und jedem Menschen ein Musikinstrument und staatlich finanzierter Instrumental- und/oder Gesangsunterricht. Oper mag zwar schön sein und ein Kraftwerk der Gefühle für manche, aber vorrangig bleibt die Ausbildung der Sinne als genau die Fähigkeit, die uns mitgegeben ist, wichtiger als alles andere, nicht nur damit man auch in Situationen wie dieser jetzt sich selbst musikalisch-ästhetisch Glück verschaffen kann, so gut es geht, sondern damit allgemein Glück in hochprofessioneller Form von Konzert und Theater angemessen wahrgenommen werden kann. Eigentlich ist die Rechnung ganz einfach: Nur wo „jeder Mensch ein Künstler“ sein kann, kann es wirklich auch Kunst und Kultur für alle geben.
- Zuerst erschienen in nmz Ausgabe: 4/2021 – 70. Jahrgang