Friedrich Nietzsche warf im 19. Jahrhundert den Deutschen vor, sie hätten mit ihren Freiheitskriegen eine politische und wirtschaftliche Einheit Europas verhindert und damit diese „kulturwidrigste Krankheit und Unvernunft, die es gibt, den Nationalismus (…), diese Verewigung der Kleinstaaterei Europas, der ,kleinen’ Politik“ auf dem Gewissen. Sie hätten Europa „in eine Sackgasse gebracht.“ 130 Jahre später behält diese Einschätzung ihr Recht, nur trifft sie andere: Frankreich, die Niederlande und Großbritannien. Denn die Verabschiedung einer europäischen Verfassung ist gescheitert. Ein „Ja“ zur Verfassung kam zuvor zwar von Österreich, Spanien, Griechenland, Ungarn, Italien, Lettland, Litauen, Slowenien und der Slowakei. Doch das interessiert jetzt offenbar niemanden mehr.
Man könnte sich die Sache leicht machen, die Angelegenheit für erledigt erklären und im alten Wasser der Brüsseler und Straßburger Bürokratie weitersegeln. Denn die Europäische Union gibt es selbstverständlich weiterhin, nur fehlt ihr ein gemeinsames und für alle verbindliches politisches Programm, eben eine Verfassung. Es war deren Ziel, für die aktuellen und zukünftigen Mitgliedstaaten verpflichtende Grundwerte des Zusammenlebens zu bestimmen. Sie hätten „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“ geheißen. Hinzu getreten wären besondere Forderungen wie: „Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern.“ Ein bunter Strauß, dem wohl kein einziger Mitgliedstaat bisher genügt und damit auch eine europäische Herausforderung.
Aber die Verfassung wies auch Streitpunkte auf. So sei es Ziel, „einen Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ zu schaffen ebenso wie eine „nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt“, zu entwickeln. Die Verquickung von Gummibegriffen („sozialer Fortschritt“, „Vollbeschäftigung“) und die klare Definition der Wirtschaftsform („soziale Marktwirtschaft“) wirkt unglücklich und einengend. Der oben genannte Wertekanon wird auf diese Weise vornehmlich durch ökonomische Prinzipien definiert und garantiert, so als ob nur dieser Weg möglich und erlaubt sei. Verkehrte Welt: das Ver- und Entwertungsrecht der gesellschaftlichen Grundordnung erhält auf diese Weise die Wirtschaft.
Aufruf der Tausend
Genau dies kritisiert zum Beispiel ein Aufruf europäischer Künstler, der so genannte „Aufruf der Tausend“, den unter anderem Pierre Boulez, Wolfgang Rihm, Heiner Goebbels und Claudio Abbado seit Juni 2004 unterzeichnet hatten. Dort heißt es:
„Wenn das Europa der Waren und des Konsums die Oberhand gewinnen würde über die Kultur Europas, wenn die Idee des Großmarktes sich anstelle eines politischen und kulturellen Projektes durchsetzen würde, wäre es denkbar, dass die Weltkrise in einer Auseinandersetzung zwischen Integrismus und Materialismus gipfeln würde. Eine solche Auseinandersetzung könnte noch schmerzlichere und verhängnisvollere Folgen haben als die Ereignisse, die die Menschheit im vergangenen Jahrhundert heimgesucht haben.“
Eine beinhahe apokalyptische Warnung. Sie fordern in ihrem Aufruf „die Regierungschefs und Staatsoberhäupter der 25 Mitgliedstaaten auf, eine Europäische Verfassung anzunehmen, die ein echtes, auf dem gemeinsamen kulturellen Erbe und unseren gemeinsamen Vorstellungen von Demokratie, Freiheit, Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde aufbauendes Kulturprojekt ist. In diesem Zusammenhang müssten die wirtschaftlichen Ziele als Mittel zum Zweck und nicht als unmittelbarer Inhalt dienen.“
Man muss beklagen, dass in dieser Verfassung über den Wertekanon viel zu viel festgelegt ist – vor allem eben menschenfreie, an dem globalen Markt orientierte wirtschaftliche, außen- und weltpolitische Aspekte. Doch diese sind nach Meinung des Sozialphilosophen Jürgen Habermas zwingend an erster Stelle. Habermas sieht vor allem die USA und die Regierung Bush als Nutznießer der nicht gelungenen Verfassungseinigung. Habermas resümiert, es „würden diejenigen triumphieren, denen der Verfassungskompromiss zu weit geht“. Statt zwischenstaatlicher Kommunikation gewännen nicht europäische Parlamente sondern Regierungskonferenzen die europäische Entwicklungsvormacht. Damit wird die Bürgerbeteiligung weiter heruntergeschraubt – ironischerweise mit dem Mittel des Bürgerentscheides (wie in Frankreich und den Niederlanden).
Das Scheitern des Verfassungsprozesses dürfte für die (europäische) Kultur keine Vorteile bringen, aber vielleicht auch wenigstens keine Nachteile; zumindest wenn man die Hoffnung nicht aufgegeben hat, dass demnächst kulturelle Fragen der Einigung vor ökonomischen stünden. Alle Zeichen der Zeit weisen allerdings in die andere Richtung. Auch zukünftig wird Europa allein ökonomisch und bürokratisch bewältigt werden. Kultur als gesellschaftseinende und -korrigierende Kraft dankt eher ab. Kultur in Europa existiert nur noch im Untergrund, nicht mehr auf der öffentlichen Bühne, die von Marktprinzipien bestimmt wird. Alle öffentliche Kultur, unabhängig von ihrer Lage in Europa, steht somit prinzipiell vor ihrer Abschaffung durch die Ökonomie. Doch Wettbewerbsökonomie kann Kultur nicht ersetzen, denn sie verbindet die Menschen nicht, sie trennt sie von einander und spaltet sie an sich.
Erschienen in neue musikzeitung 2005/07