Mit dem bald alle Lebensbereiche durchdringenden Aufstieg des Internets scheint eine Medienrevolution stattzufinden, wie man sie früher vielleicht mit der Erfindung des Buchdrucks, später der Fotografie, des Films, des Rundfunks und Fernsehens vergleichen kann. Nur dass es sich dabei wohl um keine substanzielle Veränderung handelt, sondern um eine kategoriale. Das Internet fasst die alten Medienrevolutionen zusammen und überträgt sie in ein neues Verbreitungsgebiet. In eines, dass viel stärker als zuvor auch gegenseitige Kommunikationsflussrichtungen gestattet (so dass man auch die Erfindung der Telefonie in diese Entwicklung einbeziehen muss). Keine dieser Revolutionen wurde rundweg und durch alle Teilnehmer der Bewegungen begrüßt. Apologie und Kritik gehen einmütig einher: Zugleich mit den ungeahnten Möglichkeiten des Mediums Internet wird immer wieder auch der Untergang des Abendlandes verkündet.
Schaut man sich die Struktur dieser Revolutionen noch einmal etwas genauer an, so stellt man fest, dass nicht selten eine Revolution mit der Ablösung einer älteren „gedroht“ hat. Das Foto tötet das gemalte Bild, der Film räumt das Buch aus dem Weg, das Fernsehen lässt Film und Rundfunk und Buch alt aussehen. Und das Buch selbst wird einmal die mündlichen Überlieferungen vergessen lassen. All das ist passiert und ist doch nicht passiert. Die Medien selbst scheinen hartnäckig zu sein, anders als ihre Modulationen (zum Beispiel Schelllack, Vinyl, CD, DVD oder Langwelle, Mittelwelle, Kurzwelle, Ultrakurzwelle). Eher kann man den Eindruck gewinnen, dass mit dem zunehmenden Tempo der Medienentwicklung ihre Haltbarkeit sinkt.
Alte und neue Medien
Auch das Internet wird nicht dazu geeignet sein, die alten Medien zu vernichten, weil es auf ihnen aufsetzt und sie transformiert; es hebt sie gewissermaßen in sich auf. Für einen Empfänger ist es schließlich einigermaßen egal, ob der Rundfunksender über den Äther, das Kabel, die Antenne oder die Telefonleitung sich ausbreitet. Nur ist die Entwicklung der Qualität von Form und Inhalt nicht ein parallel laufende. Gleichwohl soll nicht geleugnet werden, dass auch „gleiche“ Inhalte in verschiedenen Medien durchaus anders wahrgenommen werden und eine andere Dynamik entwickeln.
Der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze fasste diese Dynamisierung in seinem Buch „Die beste aller Welten“[1] unter dem Begriff der Inhaltssteigerung zusammen. In einem umfangreichen Abschnitt über die Veränderungen der Medieninhalte hat er fünf Entwicklungen benannt:
- „Verkürzung der durchschnittlichen Dauer von Episoden, Bildeinstellungen und Gesprächsbeiträgen; Intensivierung visuelle Reize“ (S. 67)
- „Intensivierung kulturell geprägter Reize“ (S. 67)
- „Vereinfachung“ (S. 67)
- „Vereinheitlichung der Inhalte“ (S. 67)
- „Abnahme des Anteils sprachlicher und Zunahme des Anteils rein visueller und akustischer Inhalte“ (S. 68)
Andere Steigerungsformen sieht er in der zunehmenden Selbstbeobachtung (S. 70-72 – das heißt hier insbesondere der Blick in die sogenannten Quoten) und der Medienvermehrung (S. 72-75). Insbesondere der letzte Punkt ist interessant. Fast alles ist mittlerweile Medium geworden, meint Schulze, eine Steigerung wird da nur noch möglich, „wenn aus dem einstigen Massenangebot spezielle Medien für immer kleinere Zielgruppen und schließlich individualisierte Medien werden“ (S. 75). Schulze hat hier die zukünftige Entwicklung bei den Internetangeboten beobachtet, die 2003 noch nicht in dem Maße absehbar war. Webangebote wie Netvibes (www.netvibes.com) agieren als persönliche Portalseiten ins Internet. Man klickt sich die gewünschten Nachrichten aus der weiten Welt zusammen, macht seine Infohomepage selbst. Keine fremde Werbung stört da.
Mit der Medienvermehrung und der Inhaltssteigerung ergänzen sich Phänomen, die sich dann in die Quere kommen. „Bemerkenswert bei sogenannten Medienereignissen (…) ist weniger das oft banale Geschehen als die Redundanz der Berichterstattung: das Verhältnis von Aufwand und Ertrag (S. 74). Das ist der Punkt, wo die Selbstbeobachtung wieder beginnt und die Frage, warum sehen die einen das Ereignis auf Kanal B und nicht auf Kanal A (oder umgekehrt)[2]. Schulze führt das in die absurde und zugleich treffende Behauptung: „Der Sinn von Produkten besteht in ihrer Produktion“ (S. 75); nicht viel anders klang die berühmte Formulierung Marshall McLuhans „The medium is message.“ Das Medium wird immer mehr zur Mitteilung seiner selbst. Darin erschöpfen sich nicht in Gänze aber zum großen Teil auch die neuen „sozialen“ Techniken wie Blogs, denen der Vorwurf der einer narzisstischen Selbstbezüglichkeit gemacht wird – allerdings gilt das nicht weniger auch für die traditionellen Medien von Zeitung bis Fernsehen.
Teilnahme der Manipulateure
Die Öffnung des Mediums für immer mehr Teilnehmer bedeutet nicht unbedingt und zuverlässig eine Steigerung der Inhalte in dem Sinne, dass immer mehr Perspektiven möglich werden (obgleich sie es sind). Hans Magnus Enzensberger hat in seinem Aufsatz „Baukasten zu einer Theorie der Medien“[3] von 1970 die Perspektiven zu akzentuieren versucht. „Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozess möglich, dessen praktische Mittel sich in der Hand der Massen selbst befinden“ (Enzensberger, S. 265). Zu der Zeit, als dies geschrieben wurde, dachte Enzensberger nicht an das Internet, das es ja noch nicht gab, sondern an Fotokopiergeräte, Kleinbild- und Schmalfilmkameras, sowie Magnetophone. Das Internet scheint dem gegenüber wie die Einlösung auf breiter Front. Und er verband damit die Aussicht: „Ein solcher Gebrauch brächte die Kommunikationsmedien, die diesen Namen bisher zu Unrecht tragen, zu sich selbst“ (Enzensberger, ebenda). Genauso sehr sieht Enzensberger auch den manipulativen Charakter der Medien als unabwendbar an, egal von welcher Seite das Medium gesteuert wird: „Die Frage ist nicht, ob die Medien manipuliert werden oder nicht, sondern wer sie manipuliert. Ein revolutionärer Entwurf muß nicht die Manipulateure zum Verschwinden bringen; er hat im Gegenteil einen jeden zum Manipulateur zu machen“ (Enzensberger, S. 271).
Das Rauschen der Manipulation
In gewisser Weise haben sich die Vorstellungen Enzensbergers erfüllt und nicht erfüllt zugleich. Die Produktionsmittel sind zwar allgemein zugänglicher geworden. Das ist eine Linie, die sich spätestens seit der Erfindung des Buchdrucks in Europa entwickelt hat. Der Zugang zu den Medien und zu den Verfahren der Veröffentlichung hat sich extrem verbreitert, so dass man geradewegs sagen kann, jeder Mensch mit Zugang zu diesen Techniken ist ein potentieller Sender. Wo aber alle zu Sendern werden, geht das Signal mitunter in einem allgemeinen Senderrauschen unter. Auch die Manipulationen rauschen durch die Medien. Was die einen durch Macht[4] konstituieren (legale Sender der Öffentlichkeit), kompensieren die vielen kleinen Sender durch Masse. Millionen Blogs, tausende Podcast, hunderte Internetsender. Jeder kann sich nicht nur seine eigene Homepage basteln, er kann sich auch seine Wahrheit (seine Musik, seine Kunst …) zusammenrauschen. Manipulationen der offenen Art werden schnell erkannt, Manipulationen, die das System sich selbst produziert bleiben dagegen lange unbemerkt, zumal wenn das Medium mittlerweile schon strukturell manipulativen Charakter hat.
Ein Weg, dem Verschwinden im Rauschen zu entgehen, besteht darin, sich in Gemeinschaften zu organisieren – die nach beliebigen Interessen zusammentreffen können. Das hatte Enzensberger im Sinn, als er seinen Text formulierte und die Gefahr sah: „Denn die Aussicht darauf, daß mit Hilfe der Medien in Zukunft jeder zum Produzenten werden kann, bliebe unpolitisch und borniert, sofern diese Produktion auf individuelle Bastelei hinausliefe. Die Arbeit an den Medien ist als individuelle immer nur insofern möglich, als sie gesellschaftlich und damit auch ästhetisch irrelevant bleibt. Die Diapositiv-Serie von der letzten Urlaubsreise kann hierfür als Muster dienen“ (Enzensberger, a.a.O., S. 273).
Intime Öffentlichkeit
Dazu sei ein kurzer Rückblick gestattet: In den 90er Jahren des letzten Jahrhundert hatte das Usenet (selten sind neue Schlagworte oder technische Begriffe so griffig und sinnig gewesen) eine solche Funktion. Eine nach Interessen und Sprachen geordnete Hierarchie der Diskussionsfäden wurde gewährleistet, die Zugangsschranken waren niedrig, der Kontext war im Wesentlichen textbasiert. Das alles war, sofern Zugang bestand, sich selbst strukturierend und öffentlich. Aber nicht im im Sinne einer Push-Öffentlichkeit, einer Öffentlichkeit, die man beliefern wollte, sondern einer an der man teilnahm, wenn man daran Teil hatte. Sender und Empfänger existierten im eigentlichen Sinne da nicht.
Berühung und Kommunikation
Diese Art, miteinander in Berühung zu kommen, mit selbstorganisierten Regeln und intim-öffentlich, ist dabei zu verschwinden. Denn die Entwicklung der Internettechnologien scheinen geradezu dazu anzuregen, die Kanäle mit Sendern zu verstopfen. Das oben erwähnte Rauschen der vielen Sender als Folge der von Schulze benannten Medienvermehrung führt zu Ballungskonflikten, die sich verstärkt im Rahmen von Ökonomien der Aufmerksamkeit verstehen lassen. Wo so viele Sender aufeinander prallen, muss der einzelne Sender für sich Werbung betreiben, damit er auch Empfänger trifft. Das verstehen die traditionellen „großen“ Sender wie Rundfunkanstalten, Zeitschriften und Zeitungen sehr gut, weil sie diese Aufmerksamkeit auch durch die älteren Medien erworben haben und damit von sich aus besitzen; für die vielen hinzutretenden Akteure wird es ungleich schwerer, diese Aufmerksamkeit zu erwerben.
Soziale Sender
Das hat neue Aktoren auf den Plan gerufen, die im Internet mit dem Begriff des Web 2.0 etikettiert worden sind. Es handelt sich um große Ansammlungen von aktiven Menschen, die ein gemeinsamen Interesse teilen (Flickr, YouTube, MySpace, Del.icio.us) oder auch erst finden wollen (StudiVZ, Facebook, Xing). Es ist erstaunlich, wie erfolgreich diese neuen Sender- und Kommunikationsplattformen sind, was die Anzahl ihrer Mitglieder angeht. Es ist auch erstaunlich, wie viele Menschen daran teilhaben, die dafür Daten bereitstellen und diesen neuen Sendern ihre Inhalte übertragen und dafür viele Behinderungen in kauf nehmen (Werbung, Preisgabe persönlicher Daten), einmal abgesehen davon, dass der eigene Einfluss auf die Organisation eines solchen Dienstes sehr klein ist und zweitens die Frage der richtigen Gemeinschaft anzugehören zu einem Vabanquespiel wird. Diese Einrichtungen werden euphemistisch als „Soziale Netzwerke“ bezeichnet, sind aber mittlerweile gigantische Medieneinheiten (MySpace zum Beispiel soll Mitte 2007 rund 180 Millionen Mitglieder gezählt haben, dem Medienmogul Rupert Mordoch war sein Erwerb 580 Millionen US-Dollar wert).
Hinter all dem wirkt unvermindert der Schein, dass allein das Potential, selbst als Sender aufzutreten, Fortschritt genug sei. Genährt wird er durch die Erzählungen, wie „Amatuere“ über diese Medien schließlich eben doch mindestens zeitweise zu Stars werden und beispielsweise Plattenverträge mit Major-Companies abschließen. In seinem Buch „Kunst und Brot“[5] hat Pierre-Michel Menger dieser Illusion insofern den Zahn gezogen, als er klarstellt, dass dies eine typische Risikokonstruktion ist: „Ein Markt, auf dem das Konkurrenzprinzip nicht nur akzeptiert, sondern … sogar ausdrücklich gefördert wird und auf dem die Karriereungleichheiten völlig unverkrampft zur Schau gestellt und dazu benutzt werden, eine Faszination zu schüren, ohne dass sich jemand über die Monopolisierung der Gewinne empören würde, ist der Traum jedes Kapitalisten“[6], heißt es im Kapitel „Die Inszenierung spektakulärer Ungleichheiten“. Aber genau das geschieht gegenwärtig.
Eine grundsätzliche Kritik formulierte Jean Baudrillard schon 1972, als Antwort auf Enzensbergers „Baukasten“, in seinem „Requiem für die Medien“[7]. Er verlegte dabei den Schauplatz der Analyse weg aus dem marxistischen Vokabular eines Enzensberger in die Sprache der französischen Philosophie. Baudrillard bezweifelt, dass Brecht und Enzensberger in ihren Überlegungen überhaupt den Kommunikationsvorgang erfasst haben. Er schreibt: „Es ist also eine strategische Illusion, an eine kritische Ver-Wendung der Medien zu glauben. Eine derartige Rede ist heute nur durch die Destruktion der Medien als solcher möglich, durch ihre Dekonstruktion als System der Nicht-Kommunikation.“[8] Enzensberger hat später darauf reagiert, allerdings mehr implizit, als er das Fernsehen als Nullmedium bezeichnete.
- [1] Gerhard Schulze: Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert, München 2003.
- [2] Konkret differierende Berichterstattungsformen konnte man am im Sommer 2007 anlässlich des G-8-Gipfels in Heiligendamm bemerken. Gegenkanäle zur „kanalisierten“ Öffentlichkeit der offiziell zugelassenen Berichterstattung haben sich gebildet. Aber die Kanäle konnten sich nicht gegenseitig durchkreuzen, dazu waren die Machtverhältnisse der Präsenzorgane zu unterschiedlich.
- [3] Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien [1970], in: Kursbuch Medienkultur, Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, hg. von Claus Pias, Joseph Vogl, Lorenz Engeli, Oliver Fahle und Britta Neitzel, Stuttgart 20045, S. 264-278.
- [4] Nachwievor darf diese Macht nicht unterschätzt werden. Sie äußert sich in den Finanzierungsmöglichkeiten und -fähigkeiten des Mediums. Ein öffentlich-rechtlicher Sender hat damit Zugriff auf viele urheberrechtlich geschützte Inhalte, die der private Sender (auch der der Einmann-Betrieb im Internet) im Prinzip auch hat, nur muss dieser sie selbst erwirtschaften. Siehe dazu auch: Martin Hufner, Außen vor bleibt, was anders sein könnte. Auf neuen Wegen in die mediale Zukunft: Radio und Video im Internet, in: neue musikzeitung, 2006/04, Seite 3. Auch hier ist die aktuelle Entwicklung wenig erfreulich, wenn ein Livestream-Sender, der mehr als 500 Personen erreicht, eine Sendelizenz, hier bei der Bayerischen Landesmedienanstalt, wird erwerben müssen, siehe: Christiane Schulzki-Haddouti: Lizenz zum Streamen. Neuer Rundfunkstaatsvertrag hat Konsequenzen für Livesendungen im Internet, in ct, magazin für computertechnik, 16/2008, S. 53.
- [5] Pierre-Michel Menger: Kunst und Brot. Die Metamorphosen des Arbeitsnehmers [2002], Konstanz 2006.
- [6] Pierre-Michel Menger: a.a.O, S. 41 f.
- [7] Jean Baudrillard: Requiem für die Medien [1972], in: ders.: Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978, S. 83-118.
- [8] Jean Baudrillard: a.a.O, S. 101.
Zuerst erschienen in: OVERBECK, Radiojournalismus. ISBN 978-3-89669-573-4, Konstanz 2009. S. 255 ff. –
Nachgedruckt in: Weißbuch Kulturjournalismus, hg. v. W. Lamprecht, Wien: Löcker 2012.