3. November 2024 Guten Tag, everybody

Man kann Glück nicht programmieren – Das zweite Jahr Jazzfest Berlin unter der Leitung von Richard Williams

Der Planet Jazz ist nicht klein. Im Verhältnis zur ganzen Musikindustrie mag der Jazz und die improvisierte Musik nur ein Nischendasein fristen, für ein Festival wird man aber schon ein paar Musiker zusammenbekommen. Daraus einen musikalischen Strauß zu binden, der attraktiv, aktuell, weltumspannend, lokal, ausgewogen, extrem, bewahrend und vorausschauend, experimentell und traditionell ist, ist kein gerade leichtes Werk. Zumal, wenn man kein Festival aus der Konserve machen möchte, sondern sich des Wichtigsten, das sich im Moment ereignet, annimmt – oder auch eben nicht.

In diesem Jahr hat man das Jazzfest sogar noch um zwei Tage ausgedehnt mit einem Vorprogramm, das keine Akzidenz sein sollte. Matana Roberts im Gropius-Bau und Michael Schiefel & Wood&Steel Trio mit einem Eislerprogramm im Institut français de Berlin. Für die Hauptbühne waren die „großen“ Acts reserviert. Im Zentrum dabei die Ensembles, die entweder gerade groß gehandelt werden oder einmal groß waren. Unter den Namen, die da ziehen sollten: Brad Mehldau und Joshua Redman oder Jack DeJohnette, Ravi Coltrane und Matt Garrison oder Mette Henriette. Dazu ein runderneuertes und gealtertes Globe Unity Orches­tra, ein Projekt mit der Bigband des hr und Nik Bärtsch’s Ronin. All das unter besonderer Berücksichtigung des Mottos: „Die Kunst der Konversation“. Davon blieb nicht viel übrig. Beziehungsweise alles ging in dieser Kunst auf und unter.

Große Namen – kleine Musik

Die einen schienen dabei mehr übellaunig das Gespräch zu suchen (Mehldau/Redman und DeJohnette/Coltrane/Garrison). Beim Globe Unity Orchestra wohnte man einer Therapiesitzung bei, was ja auch was hat, bei Mette Henriette hörte man dann eine Alleinunterhalterin mit musikalischem Background-Rauschen. Nik Bärtsch musste zwangsweise beim Konversieren scheitern, weil sich seine Kunst nicht einfach in die Bigband-Formation übertragen ließ, zumindest nicht innerhalb von vier Probentagen. Zu wenig Zeit zum Lernen der nötigen Konversationsmittel.

Gescheitert ist man auch am Konzept, den Jazz als Brutstätte sozialer Gerechtigkeit und Wärme darzustellen. So sollte Frauen im Jazz ein besonderer Platz eingeräumt werden, nicht etwa, weil man etwas „für sie“ tun wollte, sondern weil es sie eben einfach gibt. Eine Quotenregelung verneinte man, denn Qualität gehe über alles, natürlich. Ein zweischneidiges Argument, wenn man Abend für Abend die Veranstaltungen durchzählt. Da wirken die hr-Bigband, das Globe Unity Orchestra, das Steve-Lehman-Octet als reine Männerensembles wie ein Rückfall in Zeiten alter Wiener-Philharmoniker-Männerdominanz und die klangvollen Acts aus USA waren ebenso frauenfrei. Die Sache geht so eben nicht auf. Das wäre ja auch zu schön und so ein Wunder wird man auch im Jazz kaum erwarten dürfen.

„Kleine Namen“ – große Musik

Und damit dann doch zum Positiven: Frauen haben nämlich das Jazzfest auf andere Weise schließlich dominiert. Und zwar mit Musik, die es in sich hatte. Nehmen wir allein die Schlussnummer mit Eve Risser’s White Desert Orchestra. Die Französin entfachte mit ihrem jungen Ensemble ein akustisches Feuerwerk. Mit einer ausladenden Trauermusik zu Beginn und einem ekstatischen Choral am Ende. Jeweils Rampen für gewaltige Klang­entladungen. Eine musikalische Beerdigung der besonderen Art – in die Erde zurückgehend, organisch, umfassend. Erdig! Risser am präparierten Klavier, dazu eine Bläsersection ergänzt um Flöte und Fagott, dahinter E-Gitarre, Schlagzeug mit Gran Cassa und E-Bass. Auf der einen Seite ganz feine Klangstudien bis zu den Äolstönen der Flöte, auf der anderen Seite Klangballungen, die durchgeknetet wurden. Motivierte und extreme Soli der Flötistin, der Fagottistin oder von Posaune, Altsaxophon, Gitarre und E-Bass. Alles war frisch, alles war eigen, eine neue Musik mit erstaunlichem Drive ebenso wie mit heftigen Wirkungen. Das Gefühl, in diesen Musikstrom eingesogen zu werden, war enorm und angenehm.

Oder nehmen wir das Angelika Nies­cier und Florian Weber Quintet: Im Konzertgepäck zum Beispiel Kompositionen, bei der die Musiker/-innen jeweils ihre eigenen Linien durchführen, wenig doppeln – im Gegenteil, tatsächlich ihre Wege einzeln komponiert verfolgen, geradezu polyphon. Virtuose Soli bei allen Instrumentalisten, ein groovender Bass (Eric Revis) und ein wunderbar ökonomischer Schlagzeuger (Gerald Cleaver), der mit wenig Aufwand ein Maximum an Wirkung erzielt. Herausragend, das Doppelsolo von Florian Weber (Piano) und Ralph Alessi (Trompete) – entspannt, leicht, präzise. Funken schlägt es, wenn Bass und Schlagzeug hinzutreten und damit wie bei einem Raketenstart zünden. Angelika Niesciers Soli und Kompositionen sind ebenso durch Virtuosität und robuste Fluffigkeit gekennzeichnet. Die Musik wird reduziert und wieder aufgefächert. Überhaupt gelingt ihnen an diesem Abend fast alles. Ein Vergnügen, denn man kann an jeder Position einen Faden aufnehmen und ist mitten im Geschehen.

Ganz anders wieder Julia Holter, die als Singer/Songwriter angekündigt wurde. Ihre Songs kommen immer etwas melancholisch daher, funktionieren aber im Timing-Arrangement einfach. Vom „Jazz“ bleibt da vor allem das rhythmische Gefühl. Darunter und dahinter geht es rund. Da reißt der musikalische Vulkan auf und geht in ein Fegefeuer über. Hier gelingt dem zum Ensemble gehörenden Streichtrio zusammen mit dem Bass eine kollektive Improvisation, wo alle ihren Zusammenhang hören und sich einspielen. In den epischeren Passagen des Auftritts schälen sich Klänge im Gruppenzusammenhang aus sich heraus. Faszinierende Gebilde aus Klangfarbmischungen entstehen. Das ist Tonkultur pur – auf Basis ganz simpler Songideen. Einigen Jazzpolizisten war das zuviel, beziehungsweise zu wenig.

Das führt zum Dilemma solcher Fes­tivals zurück, es ist struktureller Natur und keines, für das man eine künstlerische Leitung verantwortlich machen könnte. Festival und Genre sind zum Guten wie zum Schlechten Risikounternehmungen. Man kann das Glück nicht programmieren, aber man könnte aus dieser nicht so neuen Einsicht die Konsequenz ziehen, dem Risiko eine Chance zu geben – es gibt in dieser Nischenkunst „Jazz“ so vieles, was auf dieser Bühne im Haus der Berliner Festspiele sich sehr wohl fühlen könnte und Richard Williams wäre der richtige Mann, weil vernetzt und kenntnisreich ohne in Seilschaften zu hängen, dies zu probieren. Zu verlieren hat er nichts, zu gewinnen alles!