Nicht nur in der nmz gab es vor kurzem ein interessantes Dossier zum Thema Frauenquote, auch beim Jazzfest Berlin ging es um Gleichbehandlung von Menschen – als Menschen. Angeblich gut die Hälfte der in Berlin vertretenen Gruppen standen unter weiblicher Leitung. Ich habe es nicht nachgezählt, aber an Tag 2 und 3 war die Verteilung bei der Hauptveranstaltung unmissverständlich und dominant männlich. Darüber soll jetzt gar nichts gesagt werden. Es ist nur ein Anlass über den seltsamen Zusammenhang von Quote, Qualität und damit Kriterien der Musikkritik im Allgemeinen nachzudenken. Und zwar nicht als „Kritik“ der Kritik – es ist in diesem Zusammenhang schon so viele publiziert worden, ganze Tagungsbände – sondern, um den ganz normalen Zuhörern, die immer auch Kritiker sind, darzulegen, welche Funktion Kritik überhaupt haben kann und warum Kritiker auch nur Menschen sind.
Quote ./. Qualität
Aufschlussreich war eher die eigentlich gutgemeinte Idee, man stelle Frauen jetzt nicht besonders in den Vordergrund, der Quote wegen, sondern weil es um die Qualität gehe. Und da seien Frauen und Männer nicht zu differenzieren, sondern selbstverständlich gleich „gut“. Man nehme nur das wahr, was zähle, die Qualität der Musikerinnen nämlich.
An dieser Stelle stellten sich sofort zwei Fragen: Warum waren dann auf der Hauptbühne in der Tat so wenig Frauen zu vernehmen? Wenn es eine Frage der Qualität gewesen wäre, müsste man im gleichen Atemzug sich eingestehen, dass es dann damit wohl nicht so weit her ist. Kann das wahr sein? Ich hoffe nicht!
Qualitätsmessungen
Daher ist die zweite Frage ist genauso interessant: Wie misst man denn Qualität im Bereich improvisierter Musik? Liegt dem die Anzahl verkaufter Tonträgern, Einladungen zu anderen Veranstaltungen, Airplays, Kritiken und/oder renommierter Labels oder Honorarhöhen zugrunde. Manchmal hat es den Anschein, sowohl als auch. Das und das alles zusammen. Ein großer Name als Qualitätskriterium nicht zu vergessen und Aussehen, Wohnort, Ausbildung. Alles objektive Kriterien (abgesehen vom Aussehen). Aber sind sie verwertbar als Qualitätskriterium? Ich würde sagen: Nein.
Hindernisse für „Offenohrigkeit“ – musikalische „Fehler“
Aus der psychologischen Forschung weiß man aber, dass all diese Elemente tatsächlich wirksam sind. Und aus der persönlichen Erfahrung ebenso. Der Chefredakteur der Jazzzeitung, Andreas Kolb, steckte mir einmal, dass sich am Kiosk diejenigen Ausgaben der Jazzzeitung besser verkauften, auf denen ein Mann im Titelfoto abgebildet war als diejenigen mit dem Konterfei einer Frau. Auch das kann kein Zufall sein und sagt so manches über manches aus. Die Schriftsteller und Essayist Dieter Kühn hat das mal in seinem Text über den Pianisten Tartarov dargestellt.
Gewiss, es gäbe auch einfachere handwerkliche Kriterien, die man ziemlich objektiv darstellen kann. So nach Tonsatz und Co. Auch kann man „falsche“ Töne finden oder wenn jemand sein Instrument nicht beherrscht und besser spielen möchte als sie kann. Nur: Ab einer bestimmten Fertigkeit dürften die Niveauunterschiede von Musikerinnen im Jazz unbedeutend sein. Insbesondere wenn man den Faktor des musikalischen Risikos in Anschlag bringt. Also die Tatsache, dass man auch mal einen schlechten Tag haben kann, dass die Mischung mit den Mitmusikern ästhetisch nicht stimmt, Übermüdung etc.
Wo ist also die Qualität, die männliche Musikerinnen gegenüber weiblichen Musikerinnen bevorteilt? Eigentlich kann es doch dann höchstens die Menge sein. Es gibt demnach mehr männliche Musikerinnen als weibliche. Also ist die Auswahl auch entsprechend verteilt. Damit wäre alles also wie es ist und wird daher auch so bleiben wie es ist.
Kritisch-reflektierte Naivität
Mir geht es bei diesen kleinen Hinweisen nicht darum, der Möglichkeit von Kritik ihre Grenzen zuzuweisen, sondern vielmehr darum, zu zeigen, wie beschränkt sie beinahe grundsätzlich sein muss. Und zu zeigen, dass sie eben auch nicht als Wissenschaft selbst auftreten kann. Musik in Realzeit wahrzunehmen, geht anders und ist nicht durch Datenerhebungen zu verifizieren. Dafür sind schon allein die Möglichkeiten der ad-hoc-Wahrnehmung zu klein. Da geht vieles eben auch über die „Stimmung“ im Raum, über feinste Nerven, die man spüren, die man aber nicht „festmachen“ kann – der Raum, die Reaktion des Publikums, die Reaktionen unter den Musikerinnen selbst etc. Diese sind in dem Moment da, sie sind möglicherweise verzerrt und von Position zu Position (im Raum) auch verschieden. Das bekannte Gefühl, dass man den Eindruck habe bekommen, der Kritikerin sei in einem anderen Konzert gewesen, ist nicht einfach abzutun, sondern ist eine Realität.
Messfehlersuche
Und man darf natürlich nicht vergessen, dass das Wahrnehmungsfeld der Kritik selbst ein Gewordenes ist, wo Vorlieben sich ausbilden, wo Erfahrungen mit Musik sich je individuell angesammelt haben. Dies müssen die Kritiker natürlich mitreflektieren, sonst droht ästhetischer Dogmatismus – also wieder Wahrnehmungsverzerrungen, die außerhalb der Musik selbst liegen. Kritisch-reflektierte Naivität wäre vielleicht die angemessene Hörhaltung für Kritiker. Andere nennen das auch „Offenohrigkeit“.
Erhellendes dazu hat auch kürzlich der Philosoph Harry Lehmann in seiner „Gehaltsästhetik – Eine Kunstphilosophie“ dargestellt:
„Wer ästhetisch erfahren ist, weiß, auf welche Details zu achten ist und in welchen Konstellationen diese in Erscheinung treten können. Man kennt die kanonischen Vorbilder und sieht die Unzulänglichkeiten im Detail. Diese Disposition führt geradewegs zur notorisch nörgelnden Einstellung des Kritikers, der fast immer enttäuscht ist, höchstens eine annehmbare Theateraufführung im Jahr sieht und vielleicht zwei Konzerte in der letzten Saison gelten lässt. Man könnte meinen, dass nur Misanthropen Kritiker werden, aber ihre Nörgelei ist eine Berufskrankheit, mit der sie sich infizieren, sobald sie in ihrem ästhetischen Feld erfahren geworden sind.“ Harry Lehmann, Gehaltsästhetik – eine Kunstphilosophie, Paderborn 2016, S. 32.
Haben Sie also auch mal Mitleid mit den Kritikern und spendieren Sie ihnen einfach mal einen Keks.
PS: Nur ein Beispiel für das Problem genannt. Beim Hören einer CD-Aufnahme von Musik geschieht es mir regelmäßig, dass sich beim ersten Hören eine gewisse Unzufriedenheit einstellt und man geneigt ist, so ein Produkt ungnädig zu betrachten. Eine Erfahrung, die sich nach mehrfachem Hören dann möglicherweise relativiert oder gar umkehrt (und umgekehrt geht es auch, dürfte aber seltener vorkommen).
- Zuerst erschienen auf JazzZeitung.de am 23.11.2016