Ekkehard Jost darf mit Fug und Recht als der Pionier der Jazzforschung in Deutschland gelten. Seine Habilitationsschrift „Free Jazz“ aus dem Jahr 1972 brachte dem Jazz in Deutschland nicht nur akademische Weihen, sondern war zugleich zeit- und wissenschaftsgeschichtlich mehr als bemerkenswert: Eine Arbeit über Jazz und zwar eine über aktuellen Jazz zu schreiben und damit in der Musikwissenschaft zu reüssieren, musste zu der Zeit als akademische Unmöglichkeit erscheinen. Dass es klappte, ist ein großes Glück gewesen, die Folgen sind vielfältig – ober- und unterirdisch verflocht sich, was verknüpft gehörte.
Das Gießener Institut
Gewiss, 1970, im Umfeld des Beethovenkongresses hat sich in der deutschen Musikwissenschaft viel bewegt. Der Zeitpunkt war günstig. Dass er, Ekkehard Jost, ein echter 68er mit allen politischen Implikationen, dann aber auch noch Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität Gießen wurde, darf als nächste Erstaunlichkeit wahrgenommen werden. Am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik sammelte sich zu der Zeit eine junge Schar progressiver Musikwissenschaftler (wie der Musikpsychologe Eberhard Kötter, der junge tschechische Forscher Peter Faltin, der Dahlhaus-Schüler und Ästhetiker Peter Nitsche und später und leider zu kurz der Sozialgeschichtler Erich Reimer). Peter Brömse war damals der Direktor, der mit Mut und guter Hand das Institut profilierte – sicher zusammen mit der Musikpädagogin Gisela Distler-Brendel.
Hier also blühte eine neue Musikwissenschaft auf – an deren Spitze: Ekkehard Jost als Vertreter der Systematischen Musikwissenschaft (wie Kötter aus der Reinecke-Schule der Hamburger Musikwissenschaft stammend). Und man hatte sich neben der musikalischen Analyse, Ästhetik, Theorie, Soziologie und der Geschichte aktueller Musik auch der Sozialgeschichte verschrieben. Diese noch unklar bestimmte Größe der Forschung zwitterte zwischen Soziologie und Geschichte – stand universitätsintern, wie immer gesagt wurde, im Verdacht, irgendetwas mit Sozialismus zu tun gehabt zu haben.
Der Lehrer als Gärtner
Man untersuchte in Gießen also auch die soziale Situation von Musikern ebenso wie man sich empirisch mit der Wahrnehmung von Musik auseinandersetzte. Das alles in einem politisch aktivierten Umfeld der Nach-68er-Studenten. Ekkehard Jost machte sich unter all diesen Fragen insbesondere an die Analyse der Jazzgeschichte. Herausgekommen sind mehrere Publikationen zur Sozialgeschichte des Jazz und zu den sozialen Bedingungen von Musikern. Man erkennt die Wirksamkeit dieser Gruppe nicht zuletzt auch an ihren Früchten: Hans-Günther Bastian (Hochbegabtenforschung) war in Gießen pädagogischer Mitarbeiter, Herbert Hellhund promovierte mit einer Arbeit über „Cool Jazz“ bei Jost, Martin Pfleiderer („Zwischen Exotismus und Weltmusik. Zur Rezeption asiatischer und afrikanischer Musik im Jazz der 60er- und 70er-Jahre“ zurzeit Professor in Weimar) – weitere Namen könnte man nennen, Studenten, die heute in verschiedenen Positionen arbeiten – man habe, wie Jost es selbst beschrieb, „so manches Ei gelegt“. Das Institut in Gießen, das Jost so nachdrücklich mitprägte, war offen, ebenso wie die Studiengänge damals noch offen waren für je spezifische Entwicklungen.
Zugleich adaptierte er Verfahren der Musik von John Cage und institutionalisierte sie, das heißt, er verankerte sie im Raum der Forschungstätigkeit. Musikmachen und Forschen, das war kein Problem. Im Gegenteil, es war ein sich gegenseitig befruchtender Prozess, bei dem Lernen praktisch und Praxis Forschung wurde. Es ging dabei gewiss zwar immer um das Ganze, aber doch so, dass man sich nicht im theoretischen Dogmatismus festbiss. Es durfte gestritten werden, ohne dass man hätte fürchten müssen, am Ende hochschultechnisch abgefertigt zu werden.
Der Organisator
Jost blieb aber ebenso als Musiker aktiv wie als Organisator von Konzertveranstaltungen. Auf seinen Ruf hin kamen nach Gießen zu Konzerten in der „Oktave“, den „Ulenspiegel“ und ans Institut: Han Bennink, Misha Mengelberg, die Kölner Saxophon Mafia, Vinko Globokar und viele, viele andere.
Einem breiteren Publikum bekannt geworden sein dürfte er auch durch seine Radiosendungen zur Geschichte des Jazz für den NDR oder den WDR, die er zuhause in seinem Studio selbst produziert hatte. Sein Schreibstil war auch schon in seinem Free-Jazz-Buch nicht akademisch, Jost konnte wunderbar formulieren. Manche seiner Bücher kann man mit ins Bett nehmen und rasend schnell verschlingen. Dass er mit den Publikationen zugleich auch aneckte, muss man positiv wahrnehmen.
Aufmupf gehört dazu
Man konnte sich also bestens streiten über alle Themen der Selbstverwaltung der Universität und über musikologische Fragen: Nicht zuletzt die Frage zum Dauerbrenner „Groove“, was das nämlich sei, oder Swing, wie der wohl entstehe! Jedem, der in der Veranstaltung zur musikalischen Analyse II (das heißt die Analyse nichtnotierter Musik) saß, musste das irgendwann einmal hören und in der Folge heiß diskutieren. Wie sowieso neben dem Pensum des Unterrichtsstoffes auch aktuelle Fragen immer wieder in die Seminare eingebrochen sind und nicht als Hindernisse gesehen wurden, sondern als Herausforderungen des lebendigen Musiklebens.
Ekkehard Jost hat, wie wenige andere Musikwissenschaftler neben ihm, Institutionen- und Musikforschungsgeschichte geschrieben, nicht zuletzt auch durch sein Engagement beim Aufbau des Jazzinstituts Darmstadt. Von 1980 bis 1990 war er Vorstandsmitglied und von 1989 bis 1992 Vorsitzender des „Instituts für Neue Musik und Musikerziehung“ in Darmstadt.
„Grumpff“
Und schließlich war da auch der Musiker Ekkehard Jost. Musik machte er an seinem Bariton-Saxophon in mehreren Gruppen, deren bekannteste „Amman Boutz“, „Grumpff“ oder „Carambolage“ (nomen est omen) waren. Jost spekulierte auch auf musikalische Art. Die europäische Musizierweise im Jazz – seine Kontakte zu den Musikern der DDR, seine Wahrnehmung spanischer Volksmusik, all das ist eingeflossen in ein brodelndes Gemisch, für das er das Etikett „jazzmusikalisch gedeutet (oder: bearbeitet)“ fand. Der Kreis schließt sich zum lebenswichtigen Thema des Begreifens einer Freiheit von Musik und Gesellschaft. Das hatte weniger zu tun mit musikalischer Propaganda, wohl aber mit „politisch engagierter“ Musik. Etwas, was man nicht künstlich aufpflanzen kann, sondern das sich aus der Lebensgeschichte entwickelt.
Ekkehard Jost starb am 23. März im Alter von 79 Jahren in Marburg.
Zuerst erschienen in nmz 5/2017 – 66. Jahrgang