Benjamin Britten ist nicht bekannt geworden durch seine Streichquartette. Vielmehr stehen im Zentrum seines Schaffens Vokalwerke wie die Oper „Peter Grimes“ oder das „War Requiem“. Die Gründe für das Schattendasein der Quartette liegen nicht in einer etwa mangelnden Qualität begründet. Vielmehr ist Brittens Musik auf den ersten Blick historisch zu spät an der Zeit. Als er sein drittes Streichquartett schrieb – es war übrigens seine letzte vollendete Komposition -, war Schönberg schon fünfundzwanzig Jahre tot. Obwohl Brittens Quartett erheblich jünger ist als die Stücke Schönbergs, klingt es keineswegs „moderner“. Brittens Musiksprache blieb wesentlich der Tonalität verbunden. Bei ihm gibt es ein sehr direktes Zusammenwirken von melodischem und formalem Bau. Wo bei Schönberg die Dimensionen von Rhythmus, Melodik, Polyphonie, Farbe und Form gegeneinander durchlässig sind, ist die musikalische Sprache Brittens stärker geprägt von der Idee des vermittelten Kontrastes: Das Lyrische wird kontrapunktiert mit dem Wilden, das Weite mit dem Dichten, das Hohe mit dem Tiefen. Doch diese „Kontrapunkte“ stellen sich nur selten als unmittelbare Kontraste dar. Sie werden vermittelt auf der Ebene der Melodik, und aus ihr heraus muß er die „zarten Kontraste“ und damit seine musikalische Form immer wieder neu erfinden.
Im ersten Satz, „Duets“ überschrieben, arbeitet Britten mit dem Intervall der großen Sekunde als zentralem musikalischen Impulsgeber. Zweite Violine und Viola umspielen sich gegenseitig im Abstand dieses Intervalls, durchkreuzen ihre Stimmen. Später ist es das Duett von erster Violine und Cello. Der Grundton ist lyrisch, zwanglos. Er wird nur kontrastriert durch den aufgeregteren Mittelteil.
Ganz anders dagegen der zweite Satz: „Ostinato“. Auseinanderspringend exponiert das Quartett zweimal eine charakteristische Figur, die dann, in den Einzelstimmen übernommen, auf- oder absteigend, im Satz ständig präsent bleibt und den Impuls für wilde Skalenläufe in den anderen Stimmen abgibt. Als Kontrast ist in den Satz eine lyrische Episode eigebaut. Erster und zweiter Satz greifen so musikalisch komplementär ineinander.
Der dritte Satz, „Solo“, vertritt den langsamen Satz aus der üblichen Satzfolge. Eine hohe, weiträumig vor sich hinfließende Melodie umbestimmter Tonart in der ersten Violine wird von Akkordbrechungen der anderen Streicher grundiert, die dabei vom Cello über die Viola zur zweiten Violine sich ablösen und aus dem tiefen Register in die Höhe der ersten Violine gelangen: Zunächst in As-Dur, dann F-Dur, schließlich A-Dur. In der Mitte des Satzes treffen sich alle Instrumente zu einem flirrenden Arpeggiogewirr über dem die erste Violine rezitativisch und aufgeregt spielt. Die Tonarten werden hier in der anderen Richtung zu As-Dur zurückgeführt. Die erste Violine beschließt mit einer langen Abgesangsszene den Satz über den anderen Streicher, die jetzt mit fahlen Flageolettönen zusammentreffen. Eine Burleske schließt sich an. Wild in der Spielweise, abstrus im Wechsel der Taktarten und mit absurden Klangwirkungen im Trio (die Bratsche spielt schnelle Arpeggien zwischen Steg und Saitenhalter).
Der Schlußsatz gehört wohl zu den schönsten Kompositionen, die Britten je geschrieben hat: „Recitative and Passacaglia“. Es ist die Lieblingssprache Brittens – das weite Aussingenlassen über einer einfachen Grundstimme. So einfach wie es klingt, ist es nicht komponiert. Der letzte Satz zieht die Summe der vorhergehenden Sätze: Das Sekundintervall ist die musikalische Substanz des ostinaten Passacaglia-Themas. Das Verhältnis zwischen Passacaglia-Thema und den Melodiestimmen ist polymetrisch und gelegentlich polytonal. Ganz zart und langsam entspinnen sich die einzelnen Melodiestimmen, werden zu einem Chor mit hymnischen Anklängen, werden zurückgenommen und in einen anderen Tonfall übergeleitet um schließlich ein zweites mal anzusetzen und zu verlöschen.