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Arnold Schönberg (1874-1951): Streichquartett op. 30 (1927)

Es gibt kaum einen zweiten Komponisten neben Schönberg, dessen Produktion so viele musikalische Wandlungen erlebt hat. Schönbergs Streichquartette stehen an herausragenden Positionen seiner stilgeschichtlichen Entwicklung. Vor seinem dritten Streichquartett hatte Schönberg schon zwei Quartette komponiert, die in ihrer Art einzigartig waren: Das große, weit ausladende, die Viersätzigkeit in einen musikalischen Ablauf bannende und die Tonalität an die Grenzen ihrer Kenntlichkeit führende d-moll-Quartett op. 7 und das, die Tür in die Atonalität schließlich öffnende Quartett op. 10 fis-moll bei dem in den letzten zwei Sätzen die Singstimme hinzutritt. Wie Schönberg mit den ersten beiden Quartetten musikalische Grenzbereiche so sehr erweiterte, daß er sie zugleich durchbrach, so durchbricht das dritte Streichquartett die Grenzen einer musikalischen Technik, die er in den Jahren zuvor entwickelte und die unter dem Namen „Zwölftontechnik“ bekannt geworden ist. Nach einer Gruppe von sehr strengen, herzlos klingenden Stücken – Adorno bezeichnete diese Stücke einmal als „Bauhausmusik“ -, die auf musikalische Formen aus der Barockzeit zurückgreifen (Klaviersuite op. 25 und Suite für Klavier, drei Streicher und drei Bläser op. 29), anderen, die polemisch gemeint waren (Chöre op. 27 und 28), und nach dem Versuch die Sonatenform ohne die Mittel der Tonalität zu rekonstruieren (Bläserquintett op. 26), ist das dritte Streichquartett seine erste neue Komposition, die die Mittel und Techniken der Zwölftontechnik vergessen macht. Es ist das erste Stück, das souverän und frei der Mittel und Techniken sich bedient ohne sie als Zweck zu setzen. Pointiert gesagt: Das dritte Streichquartett ist trotz der Verwendung von Zwölftontechnik entstanden.

Der den Schönbergkreis seit 1925 ständig kritisch begleitende Musikkritiker, Philosoph und Komponist Theodor W. Adorno war sehr beeindruckt von der Aufführung des dritten Quartetts, die er 1929 in Frankfurt mit dem Kolisch-Quartett erlebte. Er schrieb: Dieses Streichquartett sei „von einer Gewalt, die den Hörenden den Atem verschlug: vollends erhellte Musik“. An anderer Stelle heißt es, das Quartett sei „ein mächtiges Werk, unerbittlich und unangreifbar wie keine Kammermusik seit 1827, von niederzwingender Gewalt. … dämonisch erfüllte(s) Gefüge der Konstruktion.“ Hier sind Zwölftontechnik und Ausdruck zusammengekommen, haben sich gegenseitig bemächtigt. Dies allein ist der Grund dafür, daß es sich hier nicht lohnt, etwas über die Zwölftontechnik auszuführen. Es ist nicht das Verdikt, welches Schönberg selbst gesetzt hat indem er sich dagegen verwahrte, die Erkenntnis einer Komposition mit der Aufdeckung ihrer Reihendisposition gleichzusetzen, da solche Analysen „ja doch nur zu dem führen, was ich immer bekämpft habe: zur Erkenntnis, wie es gemacht ist; während ich immer erkennen geholfen habe: was es ist! … Ich kann es nicht oft genug sagen: meine Werke sind Zwölfton-Kompositionen, nicht Zwölfton-Kompositionen …“ (Schönberg an Rudolf Kolisch, Brief vom 27.7.1932, in: A. Schönberg: Ausgewählte Briefe, hg. von Erwin Stein, Mainz 1958, S. 179)

Schönberg selbst hat einmal plastisch geschildert, welche drastischen Vorstellungen ihm beim Denken an den ersten Satz des dritten Quartetts begleiteten: „Als kleiner Junge quälte mich ein Bild, das die Szene aus dem Märchen ‚Das Gespensterschiff‘ darstellt, in der der Kapitän von seiner Mannschaft an den Topmast durch den Kopf angenagelt wird. Sicher ist dies nicht das Programm des ersten Satzes des Dritten Streichquartetts. Aber es mag unterbewußt eine sehr grausame Vorahnung gewesen sein, die mich veranlaßte dies Werk zu schreiben – so oft ich über diesen Satz nachdachte, erinnerte ich mich an dieses Bild. Ich fürchte, ein Psychologe könnte diese Geschichte als einen Anlaß zu vorschnellen Schlüssen verwenden. Da sie lediglich einen Anhaltspunkt zu dem gefühlsmäßigen Hintergrund des Satzes gibt, kann sie keine Strukturaufklärung liefern.“ (A. Schönberg: Analyse des dritten und vierten Streichquartetts)

Es läßt sich gar nicht überhören, dieses stupide, penetrierende, nichtendenwollende Hämmern oder Pochen der Staccato-Achtel in den Nebenstimmen. Selbst dort, wo es noch in der gemäßigten gebundenen Form auftaucht, bleibt der Gestus erhalten. Es ist eben ein Stück, das fast durchgehend auf emotionaler Hochspannung gehalten wird. Zu dieser grundlegenden manifesten Ausdrucksgestalt des Stücks gesellt sich eine zweite, latente, die musikalisch formende Substanz: Im Prinzip handelt es sich um einen leicht modifizierten Sonatensatz, bei dem in der Reprise Haupt- und Seitensatz vertauscht werden, so daß eine Bogenform entsteht. So kongruiert die formale Idee, die eher den statischen Charakter als den dynamischen Entwicklungstypus betont, plötzlich mit dem Ausdrucksgehalt.

Der zweite Satz ist ein Variationssatz. Das „Thema“ führt vollkommen weg von der Vorstellung, es handle sich auch hier um „angewandte“ Zwölftontechnik. Schönberg spielt, genau kalkuliert, mit tonalen Elementen. Sogar Moll-Dreiklänge werden eingebaut. Aber diese tonalen Spuren, die zunächst deutlich exponiert werden, tauchen im Laufe der drei Variationen unter, werden überschwemmt von einer Flut kleinster Derivate motivischer Verknüpfungen. Die Schlußcoda zeigt das Thema verwandelt, wie in einer neuen Übersetzung des Beginns.

Der dritte Satz trägt die Überschrift „Intermezzo“. Es handelt sich offensichtlich um die Vertretung des Scherzo-Menuetts. Schönberg operiert mit wechselnden metrischen Formen, die sich gegenseitig überlagern und so den Eindruck von Flüchtigkeit erwecken. Hier zeigt sich deutlich, was für ein hervorragender Rhythmiker Schönberg war. Seine komplexen Entdeckungen beim Umgang mit motivischem und thematischem Material überträgt er auch auf die rhythmische Dimension. Fließend wechselt er die Metren, häufig überlagert er sie, so daß nie der Eindruck von Gradlinigkeit entstehen kann. Ist es im ersten Satz das Bodenlose des Ausdrucks, so resultiert aus der musikalischen Gestaltung hier ein schwebendes Losgelöstsein.

Das Rondo beginnt wie eine harmlose Spielmusik. Und doch ist es quasi nur die Umformung des ersten Satzes in eine „fröhliche“ Auskehr, natürlich hie mit Haken und da mit Ösen.