Musik: Messiaen, Le Banquet Celeste
Sprecher: Diese Musik läd ein zur Teilnahme an einem himmlischen Mahl. 1928 schrieb der französische Komponist Olivier Messiaen die Orgelkomposition „Le Banquet celeste“. Es ist ein weithin ruhiges, zartes Stück Musik: ohne jede Aufgeregtheit, ausgeglichen im Tonfall. So hat sich möglicherweise Messiaen eine Musik vorgestellt, die im Himmel erklingen könnte.
Musik: Messiaen wieder aufblenden
Sprecher: Nach einer alten Operettenweisheit soll der Himmel voller Geigen hängen. Nach einer anderen Auffassung fühlt man sich im siebten Himmel, wenn man sehr glücklich ist. Der Himmel, das ist ein Platz für Seligkeit und übergroßes Glück. Dort ist man umgeben von anderen Seligen, Heiligen, man ist geborgen und allen Leides ledig. Und Engel gibt es dort:
Musik: Albert Ayler: Angels
Sprecher: Angels, zu deutsch: Engel, nannte der Jazzmusiker Albert Ayler diese Komposition. Dieses Stück ist sein ganz persönlicher Ausdruck seiner Liebe zu Gott und seinen Engeln. Kraftvoll, inbrünstig, im Tonfall keinesfalls zurückhaltend oder ausgeglichen sondern hingebungsvoll. Albert Aylers Tonseele ist verzückt.
Musik: Albert Ayler: Angels wieder einblenden
Sprecher: Der Himmel. Ein Begriff, der kaum genau zu bestimmen ist. Unter den Begriff Himmel fasst man genauso religiöse Erscheinungen wie auch Naturerscheinungen zusammen. Der Himmel kann im religiösen Sinn das überirdische Paradies sein wie im kosmologischen einfach das Sternenzelt beschreiben, welches uns umgibt mit seinen abermillionen Sternen und weiteren merkwürdigen physikalischen Erscheinungen wie schwarzen Löchern oder zum Beispiel dunkler Materie. Alles sehr merkwürdig, verwirrend und noch kaum erforscht. Nichts genaues weiß man nicht.
Dennoch ist eine Reise durch die Musik des Himmels kein bloß unsinniges Gedankenspiel. Allein die Tatsache, dass es so zahlreiche Zeugnisse der menschlichen Beschäftigung mit einer jenseitigen, nicht-irdischen Musik gibt, wird zeigen, dass dieser Grenzbereich musikalischer Erkenntnis in Phantasieräume mündet, die ihrerseits Welten neuer sinnlicher Erfahrungen erschließt und damit Tore der Erkenntnis öffnet, die sich jenseits von Glauben und Gesetz bewegen. Dennoch sind es gerade diese beiden Pole von Glauben und Gesetz, an denen sich durch die Geschichte der letzten zweitausend Jahre die Himmelsmusik abarbeitet.
Wir kennen aus unserer Erfahrung und aus unserem Wissen heraus allerdings keine Musik aus dem Himmel. Dazu müsste man in den Himmel kommen und, was noch schwieriger wäre, wieder zurückkehren. Als Fiktion jedoch ist auch die Musik des Himmels häufig genug Thema für Komponisten gewesen. Eine ganz besondere musikalische Vision mit dem himmlischen Leben der Engel verbindet Gustav Mahler. In seiner vierten Sinfonie tritt im vierten Satz eine Singstimme zum Orchester. Als Text wählte Mahler einen Text aus der Gedichtesammlung „des Knaben Wunderhorn“. In der ersten Strophe wird das Leben der Engel als ausgestattet mit himmlischen Freuden dargestellt. „Kein weltlich Getümmel hört man nicht im Himmel. Alles lebt in sanftester Ruh“ und doch nicht lustlos.
Musik: Mahler, Vierte Sinfonie, letzter Satz Anfang 0:00 bis 1:37
Sprecher: Die vierte und letzten Strophe des Textes geht explizit auf die Musik des Himmels ein, wenn es heißt: „Kein’ Musik ist ja nicht auf Erden, die unsrer verglichen kann werden.“ Mahlers Musik wird nach dem Schellengeräusch zu Beginn beruhigt und wirkt beinahe räsonnierend. Selbst die Koloraturen des Mezzosopran klingen nicht mehr so überdreht. Mahler überschreibt diese Passage mit der Anweisung „Sehr zart und geheimnisvoll“. Die Musik dünnt immer mehr aus und verklingt in tiefer Lage im Pianissimo. Damit findet Mahler eine Lösung für das Problem, Musik zu einem Text zu schreiben, der ausdrücklich sagt: „Kein Musik ist ja nicht auf Erden, die unsrer verglichen kann werden.“
Musik: Mahler, Vierte Sinfonie, letzter Satz, letzte Strophe (ab 4:38 bis Schluss)
Sprecher: Mahlers Musik ist eher dem Geiste des Textes verwandt als dass man annehmen könnte, er wollte eine Vision einer realen Engelsmusik darstellen. Die in einem ganz außerordentlichen Sinne naive Dichtung aus „des Knaben Wunderhorn“ ist eine sehr bildreiche, bunt und lebendig geschilderte Anschauung. Mahler passt sich dieser Welt musikalisch ebenso an, wie er sie gegen Ende verlässt. Dabei wird sein Tonfall jedoch nicht moralisierend sondern geht in ein „ich weiß-es-doch-eigentlich-auch-nicht“ über. Dadurch hält er das musikalische Niveau.
Dass es mit der himmlischen Musik etwas Besonderes auf sich haben muss, zeigt die ganze jüdisch-christliche Glaubenstradition. In den Schriften des alten und neuen Testaments sowie in den Traktaten der Musiktheoretiker des Mittelalters werden musikalische Erscheinungen aus dem Himmel zur Sprache gebracht. Die Musik scheint in der Beziehung zwischen Gott und Mensch eine außerordentliche Stellung einzunehmen.
Der Himmel ist der Wohnsitz des Schöpfers: Gott oder Jahwe. Und der Schöpfer lebt im Himmel keineswegs allein, sondern ist umgeben von einer Schar verschiedenster anderer Wesen, die man als Engel kennt. Diese Engel füllen verschiedene Funktionen aus: Sie sind Sprachrohre aus dem Himmel für die Menschen auf der Erde als sichtbare und hörbare Erscheinungsformen Gottes, sie sind Hüter des Paradieses, und sie sind ausdauernd damit beschäftigt, dem Schöpfer zu huldigen, ihn zu preisen und zu loben.
Zitatsprecher: Ich sah den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Stuhl und sein Saum füllte den Tempel. Seraphim standen über ihm; ein jeglicher hatte sechs Flügel: mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie. Einer rief zum anderen und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth; alle Lande sind seiner Ehre voll. Da erbebten die Schwellen von der Stimme ihres Rufes und das Haus ward voll Rauch.
Sprecher: Oder in einer anderen Vision:
Zitatsprecher: … und ich hörte hinter mir ein Getöse wie eines großes Erdbebens: Gelobt sei die Herrlichkeit des Herrn an ihrem Ort! Und war ein Rauschen von den Flügeln der Tiere, die aneinanderschlugen, und auch das Rasseln der Räder, so hart bei ihnen waren, und das Getöse eines großen Erdbebens.
Musik: Hindemith, Mathis der Maler, 1. Satz, frei ab ca. 1:06 bis 1:48 [DEKO]
Sprecher: Von einem süßen Gesang erzählen die Berichte aus dem alten Testament jedoch nichts. Der Lobpreis der Engel ist ein Schauspiel, das mit den Sinnen kaum zu erfassen ist. Ein Schauspiel, zu dem nur Engel fähig sind, nicht aber Menschen. Zwischen der Musik der Menschen und der Stimme Gottes nehmen die Engelstöne jedoch einen vermittelnden Platz ein. Die Stimme Gottes ist nach den Berichten des alten Testaments schlichtweg zu gewaltig, sie würde für die menschlichen Ohren unerträglich sein. Nicht zuletzt deshalb auch bedarf es der Engel bei der akustischen Vermittlung zwischen Schöpfer-Gott und Mensch. Dennoch: Von Singen oder Musizieren in einem uns bekannten Sinne kann man bei den alttestamentarischen Berichten nicht sprechen.
Diese Vorstellung von Engelsmusik ändert sich in den Texten der christlichen Überlieferungen. Nun gilt als eine der vornehmsten Aufgaben der Engel, den Lobpreis Gottes anzustimmen. Dazu werden zum Teil abertausende von Engeln herangezogen. In der orientalischen Markus-Liturgie der alexandrinischen Christen heißt es dazu:
Zitatsprecher: Um dich stehen tausend mal tausend und zehntausend Myriaden von heiligen Engeln und die Herrscharen der Erzengel. Um dich stehen die zwei ehrwürdigsten Wesen, die vieläugigen Cherubim und die sechsflügeligen Seraphim, die mit zwei Flügeln ihr Antlitz verhüllen und mit zweien die Füße und mit zweien fliegen. Mit unermüdlichem Munde und mit nie schweigenden Lobpreisungen Gottes ruft einer dem andern den dreimal heiligen Siegeshymnus zu, indem sie zu deiner großen Herrlichkeit singen, rufen, verherrlichen, schreien und sprechen: Heilig …
Sprecher: Dabei wird in den frühen Zeugnissen des Christentums sowie in zahlreichen Visionen Einzelner immer wieder erklärt, dass dieser Lobpreis, wenngleich mit vielen Stimmen gesungen, doch einstimmig und unendlich ist. Dahinter verbirgt sich die Anschauung, dass sich vermittels der Einstimmigkeit auch die einzige Wahrheit ausdrücke. Vielstimmigkeit würde nämlich auch Abweichung bedeuten. Damit ist eine musikalische Tradition ins Leben gerufen worden, die sich bis in die Legende der Entstehung des gregorianischen Chorals hinein gehalten hat. Danach hat eine Taube dem Papst Gregor die Musik des gregorianischen Chorals eingegeben. Diese Musik wurde darum für lange Zeit als einzig mögliche Form wahren christlichen Musizierens gehalten.
Musik: Gregorianischer Choral – Von der Machaut-Platte zu ziehen
Sprecher: Es ist ein Kennzeichen der mittelalterlichen Musikanschauung, dass die Vorstellungen von einer Musik des Himmels für die Gestaltung der irdischen Musik beinahe unmittelbar gesetzbildend sind. Die irdische Musik ist nach dem Vorbild der himmlischen zu entwerfen. Wo dies nicht der Fall ist, ist die Musik des Teufels nicht weit. Eine der eindrucksvollsten Schilderungen dieser Vorstellungen ist in Hieronymus Boschs großem Tryptichon „Der Garten der Lüste“ zu finden. Abbildungen von Musikinstrumenten finden sich dort im linken Flügel mit dem Titel „Die Hölle“. Und was kann man dort sehen? Menschen, die in die Saiten einer Harfe eingespannt sind; Menschen, die Arme aus dem Trichter einer Sackpfeife strecken; Menschen, die an den Hals einer Laute gefesselt sind; Menschen, totenkopfgleich, die aus einer Drehleier heraus eine Triangel schlagen wollen; Menschen, im Innern einer Trommel und schließlich ein Mensch dessen Hintern als Notenpapierersatz dient. Von diesem Hinterteil lesen die Chorsänger ihre Musik. Und was soll man wohl von dem Ohrenpaar im oberen Drittel des Flügelteiles halten, welches von einem Pfeil durchstoßen ist, geteilt durch ein scharfes Messer und so wie ein Räderpaar über menschliche Kreaturen hinwegrollt oder geht? Das sind keine besonders erfreulichen Attribute, mit denen die Musik versehen wird. Man deutet diese Bildkonstellation als Verdammung der höllischen oder teuflischen Musik, die nicht zum Lobe Gottes gedacht ist, sondern allein zu Befriedigung der Wolllust.
Musik: Crumb, Dark Angels Anfang Ab 3:19/20 [DEKO]
Sprecher: Bosch hebt in seinem Bild der Hölle einseitig die verderblichen Einflüsse der Musik hervor: Eine Angst übrigens, die die Musikkultur des Mittelalters stets begleitet hat. Daher verwundert es auch nicht, dass von kirchlicher Seite aus, jede musikalische Neuerung oder Entwicklung, sei es Vielstimmigkeit oder Einsatz von Musikinstrumenten, zunächst mit Argwohn betrachtet worden ist. Der Musikwissenschaftler Michael Walter fasst das Problem dieser mittelalterlichen Musikauffassung so zusammen:
Zitatsprecher: Der einstimmige liturgische Gesang des Frühmittelalters war keine Komposition im neuzeitlichen Sinne, sondern ein Einstimmen in den präformierten und jeweils ‘immer schon vorhandenen’ Gesang der Engel und somit eine kosmologische Manifestation. Die Melodien waren durch die Engel auf die Erde gebracht (oder Gregor dem Großen vom Heiligen Geist eingegeben worden), so die mittelalterliche Vorstellung, die den Rang einer konkreten Erfahrung hatte. (…) Der Gesang verband also den Menschen direkt mit Himmel, und damit mit Gott. Wer sang, war an der Anbetung Gottes durch die Engel und im Himmel direkt beteiligt. Liturgische Musik stellte also die unmittelbare, kosmologisch fundierte Verbindung zu Gott selbst dar. Vertreter des Teufels auf Erden waren nach mittelalterlichem Musikverständnis die Spielleute, denn diese hielten sich nicht an die allgemein anerkannten Regeln der liturgischen Musik (…). Der Unterschied zwischen der dieser Ordnung entsprechenden liturgischen Musik und der Musik der Spielleute war nicht nur der zwischen kirchlicher und säkularer Musik: er war auch einer zwischen gestaltbarer und nicht-gestaltbarer Musik insofern als selbst noch die mehrstimmige Ausgestaltung der liturgischen Musik lediglich als Schmuck, als Akzidenz galt, mithin der Intention nach nicht als menschliche und originäre Komposition im eigentlichen Sinne zu werten war, während die Musik der Spielleute eben in ihrem Verstoß gegen die göttliche Ordnung menschlich, originär und insofern die Bedingung der Möglichkeit musikalisch-ästhetischen Denkens war.
Sprecher: Michael Walter Schlussfolgerung:
Zitatsprecher: Erst die Rückbesinnung auf die menschliche, vom Himmel abgelöste Dimension der Musik, die damit als gestörte kosmologische Ordnung der Einwirkungsmöglichkeit des Teufels unterlag, ließ Kunstmusik entstehen. In diesem Sinne wäre es nicht falsch, würde man sagen: der Teufel hat die Musik gemacht.
Musik: Crumb: Dark Angels Track 2 ab 1:09 [DEKO]
Sprecher: Doch Teufel beiseite. Für die Musikanschauung des Mittelalters ist die Musik des Himmels ist etwas ganz Besonderes, eigentlich Nicht-Fassbares: süß, in unbekannter Sprache, ewig und zeitlos. Der ganze Himmel ist voll von Sprache und Musik, die zum Lobe Gottes existieren. Durch die Absetzung der himmlischen Musik von der irdischen wird auch klargestellt, dass beide Welten kategorial voneinander getrennt sind. Die Musik auf der Erde klingt einfach anders als Musik im Himmel.
Das zeigt besonders eindrucksvoll auch Raffaels Tafelbild der heiligen Caecilia aus den Jahren 1514/1515. Zu sehen ist die heilige Caecilia, Schutzpatronin der Musik, wie sie eine auseinanderfallende Portativorgel in Händen hält, unter ihr verstreut funktionsunfähige, beschädigte Musikinstrumente. Die heilige Caecilia blickt verklärt nach oben, wo sich der ein geöffneter Himmel befindet und in hellem Schein Engel aus einem Buche singen. Die irdische und die himmlische Welt und damit auch die verschiedenen musikalischen Kulturen sind in Raffaels Tafelbild in Kontrast gesetzt. Himmlische und irdische Liturgie sind deutlich getrennt. Und diese Trennung zwischen irdischer und himmlischer Musik ist am Ende der Mittelalters ein ästhetisch fast unüberwindbares Faktum.
Aufgehoben wird die Trennung allenfalls durch die Mystik, einem Bereich menschlicher Erfahrungstätigkeit jenseits von Himmel und Erde. Mystische Verzückung äußert sich zum Beispiel als sogenanntes Zungenreden. Redet ein Mensch in Verzückung zum Beispiel in Worten, die unverständlich sind, so wird diesem Umstand keineswegs eine Verwirrung des menschlichen Geistes unterstellt, sondern häufig genug das Gegenteil: Sie kann eine Manifestation göttlicher Botschaften sein. Das Reden in merkwürdiger Form ist häufig als eine Ausdrucksform von Propheten oder Sehern angesehen worden. Und so sagt zum Beispiel der Apostel Paulus:
Zitatsprecher: Denn der mit Zungen redet, der redet nicht den Menschen, sondern Gott; denn ihm hört niemand zu, im Geist aber redet er Geheimnisse.
Sprecher: Er redet also kein wirres Zeug sondern Geheimnisse. Denn wie zahlreiche Berichte beschreiben, ist die Sprache des Himmels anderer Art als die des Menschen. Sublimierte Formen dieses Zungenredens, die diesen Bezug zur göttlichen Sprache haben, findet man im Phänomen des Jubilierens. Der Begriff des Jubilierens hat ursprünglich zwei Bedeutungen. Er bezeichnet sowohl Schreien wie Singen. Reinhold Hammerstein beschreibt in seinem Buch „Die Musik der Engel“ einen interessanten Bezug zwischen Jodeln und Jubilieren.
Zitatsprecher: Bis in die neueste Zeit sind in den volksmusikalischen Juchzern, Jodlern und Kuhreien archaische Typen des Jubilierens lebendig geblieben. Man hat in ihnen sogar Entsprechungen zu manchen Tonformeln der mittelalterlichen Sequenzen, die ihrerseits mit Jubilus und Alleluja verwandt sind, gefunden. Noch aus dem 19. Jahrhundert wird berichtet, daß in Sterzing während der Messe das Alleluja gejodelt wurde.
Sprecher: Derartige Gesangsweisen finden sich heute auch noch, aber sehr viel mehr abseits der urbanen und modernen Kultur. Zum Beispiel in einem Gesang zur Ehre des Hochzeitstages in einem georgischen Dorf.
Musik: Georgischer Hochzeitsgesang
Sprecher: Das Erlangen von göttlichen Geheimnissen über Sprachexperimente findet man auch in der jüdischen Mystik. Der jüdische Kabbalist Abraham Abulafia beschreibt im 13. Jahrhundert eine Technik, diesen Geheimnissen nahezukommen.
Zitatsprecher: Wenn es Nacht ist, zünde viele Lichter an, bis es ganz hell ist, und dann nimm Tinte, Feder und Tafel in die Hand und denke daran, daß du im Begriffe stehst, Gott in Freude des Herzens zu dienen. Dann beginne, wenige oder viele Buchstaben zusammenzusetzen, zu vertauschen und miteinander zu bewegen, bis dein Herz warm wird, und achte auf ihre Bewegung und was sich bei dir aus ihr ergibt. Und wenn du spürst, daß dein Herz schon warm geworden ist, und du dann siehst, daß du durch die Buchstabenkombinationen neue Dinge erfassen kannst, die du durch menschliche Überlieferung oder von dir selbst aus nicht erkennen könntest, und du schon vorbereitet bist, den Influxus der göttlichen Kraft in dich aufzunehmen, dann richte all deine wahren Vorstellungen darauf, den Namen Gottes und seine höchsten Engel in deinem Herzen dir vorzustellen, als ob sie Menschen wären, die um dich herumstünden oder säßen.
Musik: Feldman: why patterns (unter dem Text einblenden – hier aufblenden und wieder unterlegen)
Sprecher: Nicht zufällig vergleicht Abulafia seine Wissenschaft von der Kombination der Buchstaben mit musikalischen Wirkungsweisen.
Zitatsprecher: Die Saiten, die die linke oder rechte Hand anschlägt, bewegen sich, und der Geschmack der Töne ist den Ohren süß. Und von den Ohren geht der Ton ins Herz von vom Herzen in die Milz, das Gefühlszentrum, und durch den Genuß der Verschiedenheit der Melodien entsteht immer neue Freude. Es ist unmöglich sie hervorzubringen, es sein denn durch die Kombination der Töne. Und genauso verhält es sich mit der Kombination der Buchstaben. … Und die Geheimnisse, die sich in diesen Verbindungen aussprechen, erfreuen das Herz, das dadurch seinen Gott erkennt und sich mit immer neuer Freude erfüllt.
Musik: Feldman – why patterns (hier wieder aufblenden und wieder unterlegen)
Sprecher: Die Beschreibungen Abulafias weisen einige gemeinsame Merkmale mit der Kompositionsweise der späteren Werke des amerikanischen Komponisten Morton Feldman auf. Es sind wenige Töne, die bei Feldman immer wieder neuer Weise kombiniert, versetzt und gegeneinander verschoben werden. In dem Stück, „why patterns?“, geschieht dies außerdem noch mit der Besonderheit, dass die drei Stimmen von Klavier, Celesta und Glockenspiel unabhängig voneinander agieren. Die Ausgestaltung linearer Zeitabläufe soll auf diese Weise entgegengewirkt werden. Das Unvorhersehbare wird gleichsam zum Gestaltungsmittel, welches nicht Beliebigkeit zum Ziel hat sondern unbeherrschbare Wahrheit.
Musik: Feldman – why patterns (hier wieder aufblenden und wieder unterlegen, aber nur kurz)
Sprecher: So wenig man unmittelbar Informationen über die Musik im Himmel erhalten kann, so stark verbreitet ist andererseits der musiktheoretische Diskurs, der den Himmel selbst als Musik beschreibt. Spätestens seit der antiken Philosophie der Griechen wird zwischen der Musik auf der Erde und der außerirdischen Musik eine enge Verbindung gesehen. Der Himmel, das ist im antiken Griechenland der Sternenhimmel. Diese außerirdische Welt umfängt das Leben auf der Erde. Auf der Erde ist alles Seiende vergänglich, der Kosmos scheint dagegen etwas Überzeitliches darzustellen, denn er bleibt als Bild beständig. Auf der Erde gibt es die Zyklen von Kommen und Gehen, Wachsen und Vergehen, der Anblick des Sternenzeltes scheint dagegen eine Ewigkeit darzustellen. Dinge, die sich nicht verändern wie die Lage der Sternbilder korrespondieren mit Dingen, die sich gesetzmäßig wiederholen, zum Beispiel den Planetenumlaufbahnen, Sonnen- und Mondbewegungen. Zugleich ist der bloße Anblick des Nachthimmels faszinierend. Nicolaus Copernicus schreibt um 1540 in seinem Buch „De revolutionibus Orbium Caelestium“ in dem er das damalige Weltbild mit der Erde als Mittelpunkt des Kosmos nachhaltig veränderte und die Sonne ins Zentrum setzte:
Zitatsprecher: Was ist denn schöner als der Himmel, der doch alles Schöne in sich enthält? Das machen ja auch schon die Namen klar: Caelum und Mundes, – der eine ruft auf die Vorstellung von Klarheit und Zier, der andere die von kostbar bearbeitetem Metall. Ihn selbst haben die meisten Philosophen wegen seiner ausnehmenden Erhabenheit ‘sichtbaren Gott’ genannt.
Sprecher: Die Beschäftigung mit dem Himmel ist Beschäftigung mit Gottes Werk. Und weil der Himmel anscheinend so gesetzmäßig, von Menschen nicht beeinflussbar, strukturiert ist, kann er als außerirdisches Gesetzesbild aufgefasst werden. So finden sich zum Beispiel sehr früh in den Fragmenten der Vorsokratiker immer wieder musikalische Deutungsmuster des Sternenhimmels.
Zitatsprecher: Phythagoras lauschte auf die Harmonie des Alls. Denn er verstand die Harmonie der Sphären und der in ihnen sich bewegenden Gestirne, die wir nicht hören können, wegen der Dürftigkeit unserer Natur. Aus diesem leuchtet ein, dass auch die Ansicht, es werde durch die Bewegungen der Gestirne eine musikalische Harmonie erzeugt, da die hierdurch entstandenen Töne einen Zusammenklang (symphonía) ergäben, von denen, die sie ausgedacht haben hübsch und scharfsinnig dargestellt ist.
Sprecher: Und ein Schüler des Phythagoras, sagt:
Zitatsprecher: Die Tonleiter (harmonía) ist himmlisch: sie hat eine göttliche, herrliche, wunderbare Natur.
Musik: Pärt: Pari intervallo [Track 19] [DEKO]
Sprecher: Es gibt nach den Vorstellungen der antiken griechischen Philosophie eine Verknüpfung zwischen den Proportionen der Himmelbewegungen und den Proportionen in der Musik. Diese Anschauung zieht sich als ein Grundgedanke der Musiktheorie durch das Abendland, von der Antike über das Mittelalter bis weit in die Neuzeit. Im Schnittpunkt zwischen antiker und mittelalterlicher Musikanschauung steht der Musiktheoretiker Boethius (480–524). In seinem Traktat „De institutione musica“ unterscheidet er zwischen musica mundana (die nach Maß und Zahl gestimmte Bewegung des Weltalls), musica humana (das Zusammenspiel von Leib und Seele) und am unteren Ende die musica instrumentalis (die erklingende Musik). Die Weltharmonie ist die höchste Form der Gestaltung und sie wird letztlich auch zum Maße der Gestaltungsnormen der erklingenden Musik. Denn, was am Klang des Himmelzeltes richtig ist, kann auf der Erde nicht falsch sein. Daran ändert sich im Wesentlichen auch nichts durch die kopernikanische Wende. Bei Kopernikus ist nicht mehr die Erde der Mittelpunkt des Universums, sondern die Sonne, um die in Kreisbewegungen die Planeten (Kopernikus nennt sie Wandersterne) laufen, eingerahmt von der unbeweglichen Schale der Fixsterne. Dieses Wissen eignet sich auch die Musiktheorie zu wie in Johannes Keplers umfangreichem Traktat „Harmonices mundi“, das 1619 veröffentlicht wurde:
Zitatsprecher: Nichts anderes sind also die Himmelsbewegungen als ein fortwährendes Zusammenklingen, alles in einem gleichsam sechsstimmigen Satz und mit diesen Noten gleichsam die Unendlichkeit gliedernd und unterbrechend. Und so ist es weiterhin nicht merkwürdig, daß der Mensch, der Nachahmer des Schöpfers, die Einsicht in den mehrstimmigen Gesang gefunden hat, die den Alten verschlossen war, so daß er den stetigen Fluss der Weltgeschichte im kurzen Bruchteil einer Stunde abbildet mit einem kunstreichen mehrstimmigen Tongefüge und so die Schöpferfreude Gottes über sein Werk in den süßesten Wonnegefühl nachkostet, wie es ihm die Gott nachahmende Musik vermittelt.“
Musik: Claude Le Jeune: Que je porte d’envie (A-Seite Titel 1)
Sprecher: Noch bis ins 19. Jahrhundert ist die kosmologische Musiktheorie präsent. In Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings „Philosophie der Kunst“ aus dem Jahr 1802 steht: „Auch im Sonnensystem drückt sich das ganze System der Musik aus.“ Über die Tonsysteme hinaus findet Schelling im Kosmos selbst noch Erklärungen für Gestaltungsmittel wie den Kontrapunkt oder das sinnvolle Fortschreiten der Harmonien. Bei Schelling werden schließlich auch Kometen in die Himmelsharmonie eingebaut. In der Entwicklung der kosmologisch orientierten Musiktheorie seit Pythagoras erfährt das Weltall eine immer feinere Differenzierung. Mit Schelling ist man gewissermaßen am Ende der Deutungsfähigkeit himmlischer Harmonien angekommen. Denn war die antike Betrachtung der Himmelsbewegungen gesetzbildend für die Ordnung der Musik, so werden die Himmelsbewegungen im 19. Jahrhundert an die aktuellen Entwicklungen der Musik nur noch nachträglich angepasst.
Dass die Himmelszeltbezogenheit von Musikanschauungen keinesfalls bloß eine Idee der abendländischen Kultur ist, darauf hat der Musikwissenschaftler Curt Sachs in seinem 1930 erschienenen Buch „Vergleichende Musikwissenschaft“ hingewiesen. So werden laut Sachs den Planeten des Sonnensystems durch verschiedene Kulturen hindurch sowohl Tonhöhen wie Eigenschaften zugeschrieben. In China zum Beispiel dem „Gis“ der Osten, das Holz, der Frühling, Jupiter und die Farbe grün und dem „Fis“ der Westen, das Metall, der Herbst, die Venus und die „Farbe“ weiß. Damit verknüpft sind auch verschiedene Temperamente und somit Empfindungsweisen des Menschen. Den theoretischen Ausgangspunkt findet die Musik nach Curt Sachs aus der Beobachtung der Naturerscheinungen durch die Menschen.
Zitatsprecher: Jahreszeiten sind für uns eine physikalische-meteorologische Angelegenheit. Die Antike versteht sie musikalisch. Frühling und Herbst bilden eine Quarte, Frühling und Winter eine Quinte, Frühling und Sommer eine Oktave. So in China. Und abermals das gleiche System im Westen: in Babylon bilden Frühling und Herbst eine Quarte, Frühling und Winter eine Quinte.
Sprecher: Das Orchesterwerk „Die Planeten“ von Gustav Holst spielt mit all diesen Andeutungen weniger in musiktheoretischer Weise denn als raffinierte Umsetzung musikalischer Formeln. So wird zum Beispiel in der Charakerisierung des Mars eine musikalische Marschsymbolik eingesetzt.
Musik: Gustav Holst: Die Planeten Mars (schon unter dem Text einblenden ab 4:40 freistehend ab 4:46 bis 6:50 dann unter den nachfolgenden Text blenden) [DEKO]
Sprecher: Temperamente, Jahreszeiten, Planeten, Mensch und Musik: Alles hängt miteinander zusammen. Das geht hinein bis ins politische Tagesgeschäft. Curt Sachs erwähnt ein Beispiel aus China:
Zitatsprecher: Chinesische Kaiser begannen ihre Herrschaft mit dem Befehl, der Minister habe die Musik wieder in Einklang mit dem Weltall zu bringen. Heute würden wir es trocken nennen: die Stimmgabel neu zu eichen. Was sollte mit dieser Neuabstimmung erreicht werden? Die alten Weisen des Reiches der Mitte sprechen es deutlich aus: Staat und Musik sind, wie der Mathematiker sagen würde, funktionell verknüpft. Ist die Musik in Unordnung, muß es auch der Staat sein.
Sprecher: Man erkennt, wie die Beziehungen zwischen Kosmos, Himmel und Erde von der Antike bis ins 20. Jahrhundert und über verschiedene Kulturräume hinweg in der Musiktheorie präsent sind. Das Bindeglied in dieser Welt- und Musikauffassung ist etwas sehr Abstraktes: die Zahl. Von Pythagoras’ mathematischer Auffassung der Welt, wenn er sagt: „Der ganze Himmel: Harmonie und Zahl“ bis zu Curt Sachs’ Resümee „Die Zahl wird Weltgesetz“ zieht sich eine Linie. An ihr entlang lassen sich die Wirkungsweisen von Musik ebenso erklären wie ihre Vernünftigkeit und Universalität. Reinhold Hammerstein hat in seiner Untersuchung „Die Musik der Engel“ diese zentrale Bedeutung des Welt- und Zahlenverständnisses zusammengefasst.
Zitatsprecher: Die ganze Welt ist in diesem System ein harmonikaler Kosmos, zusammengehalten durch die Zahl. Die Ordnungen des Makro- und Mikrokosmos, die des Sittlichen wie des Schönen sind identisch, weil den gleichen Zahlenverhältnissen unterworfen. Die Musik der Zahl, ob Sphärenharmonie, Seelenharmonie oder reale Musik, ob klanglich oder außerklanglich, ist der Welt immanent. Sie ist der Klang der Welt.
Sprecher: Doch wie die Erfahrungen der christlich-religiösen Himmelsmusik gegen Ende des Mittelalters immer mehr zerfallen, zerfällt unter dem Eindruck der wissenschaftlichen Erforschung das abgerundete Weltbild der Einheit von Kosmos und Erde. Unser Blick auf das Sternenzelt ist entzaubert worden. Bis kurz an den Urknall heran lässt sich das Entstehen und Werden des Kosmos’ zurückverfolgen. Es fehlen nur die ersten 10-43 Sekunden. Das ist eine unvorstellbare kurze Zeitspanne. Eine Zahl mit 42 Nullen nach dem Komma. Von diesem Zeitpunkt an scheint alles klar zu sein. Man kann alles durchrechnen, unter welchen Bedingungen von Temperatur, Dichte und Ausdehnung Materie entsteht, sich verwandelt und das Universum sich entfaltet. Der Zustand, den das Universum in den ersten 10-43 Sekunden hatte, ist für die Erfahrung allerdings nicht mehr zu rekonstruieren. Und es kann sein, was einen nicht mehr überraschen sollte, dass die Entstehung aus dem Nichts ein möglicher Beginn war. Das stellt alle unsere Erfahrung auf den Kopf: Aus Nichts kann doch nichts werden? Noch verstörender mag die Frage scheinen, was vor dem Zustand zum Zeitpunkt Null gewesen sein mag, ob nicht das Entstehen unseres Universums nur ein Fall unter anderen Fällen ist, von denen wir nichts wissen könnten oder ob nicht unsere Universum selbst wieder nur ein Staubkorn in der Welt eines anderen Universums ist? Und ob das nicht der Punkt sein könnte, ein Wesen oder einen Zustand anzunehmen, der auch das alles in sich fasst.
Musik: Sibelius, 4. Sinfonie, Erster Satz ab 5:42, 5:54 – 7:00 frei [DEKO]
Sprecher: Doch auch die Ausdehnung des uns heute bekannten Universums geht an die Grenzen der Vorstellung. Das Universum soll nach aktuellen Berechnungen eine Ausdehnung von 20.000 Millionen Lichtjahren haben. Wenn man es sich als Raum mit einer Seitenlänge von etwa 20 Metern vorstellt, dann wäre zum Beispiel der Abstand der Galaxie, der auch unser Sonnensystem angehört, zur nächsten Galaxie, der Andromeda-Galaxie, zwei Millimeter. Wobei in diesem vorgestellten 20-Meter-Kubus ein Millimeter einer Entfernung von immerhin einer Million Lichtjahren entspräche. Der Durchmesser unserer Galaxie wäre mit 0,1 Millimeter dagegen schon sehr, wirklich sehr klein. Eine Winzigkeit. Und es gibt sehr viel mehr Stellen im All, von denen man aus gar nichts sehen kann, als Orte, von denen aus ein Himmelszelt zu sehen ist. Immer größer wird der Kosmos, immer kleiner unsere Erdenwelt. Die Räume vergrößern und verschmälern sich zur gleichen Zeit. Keine Welt-Raum-Konstruktion kann dies mehr zusammenfassen, auch kein Gott. Die Folgen des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses sind für die einzelne Seele verheerend. Der Philosoph Georg Lukács beschrieb dieses Phänomen Anfang des 20. Jahrhundert.
Zitatsprecher: Kants Sternenhimmel glänzt nur mehr in der dunklen Nacht der reinen Erkenntnis und erhellt keinem der einsamen Wanderer – und in der Neuen Welt heißt Mensch-sein: einsam sein – mehr die Pfade.
Musik: Sibelius: Der Schwan von Tuonela 0:00 bis 2:30 dann unter den Text [DEKO]
Sprecher: Wenn wir in die Nacht treten und bei genügender Dunkelheit in den Sternenhimmel blicken, klare Luft über uns, wenig von Menschen produziertes Licht vorausgesetzt, dann bietet er keine Lösungen mehr an, sondern wirft uns auf uns selbst zurück: Die Unermeßlichkeit des Himmels belehrt einen über Zufälligkeit des eigenen Daseins. Die wissenschaftliche Entwicklung hat unsere Kenntnis des Universums zwar erweitert, doch damit hat der Kosmos als normensetzende Institution erheblich an Bedeutung eingebüßt. Der ehemals sinnvolle Kosmos wird zunehmend sinnlos. Wenn das Weltall sinnlos ist, so kann es keinen Sinn stiften. Die Abbildung der Musica mundana auf die Musica instrumentalis ist nicht mehr zu leisten. Der Himmel ist nicht voller Sterne sondern voller Leere. Und doch beginnt nach Lukács mit dieser Erfahrung erst das, was man Erkenntnis nennen mag oder aber auch die Kunst. Für die kosmologisch fundierte Musiktheorie gilt mithin das Gleiche wie für die Theorie der Engelsmusik: Sie verliert zunehmend an Bedeutung für die irdischen Entwicklungen von Rationalität und Sinnlichkeit. Die Musik der abendländischen Musikkultur wird immer eigenständiger, individueller und löst Stufe um Stufe fremde Gestaltungsnormen auf. Die ungeheure Entwicklung und Differenzierung der abendländischen Kunstmusik seit dem Mittelalter kann als rationale Kompensation des zunehmenden Wegfalls von außerweltlichen Normen beschrieben werden. Im gleichen Prozess eröffnen sich neue Möglichkeiten, in unbekannte Regionen der Phantasie vorzustoßen. Theodor W. Adornos These aus der „Ästhetischen Theorie“, dass nur wahr sei, was nicht in diese Welt passe, fordert dazu auf, nicht dem Faktischen sich zu beugen, sondern Wagnisse einzugehen, jenseits des festen Bodens des ohnehin Vorhandenen.
Wenn in Arnold Schönbergs zweitem Streichquartett von 1907/1908 die hinzutretende Stimme den Satz „ich fühle luft von anderem planeten“ aus Stefan Georges Gedicht „Entrückung“ intoniert, dann schreitet zugleich die Musik aus dem Erdenraum in den Kosmos hinaus und setzt dabei auch neue Wege musikalischer Gestaltungsweisen frei. Die Einleitung beschreibt Schönberg als „Abreise von der Erde zu einem anderen Planeten“.
Zitatsprecher: Ich habe versucht, die Befreiung von der Gravitation darzustellen – das Passieren durch die Wolken in zunehmend dünnere Luft, das Vergessen aller Sorgen des Erdenlebens.
Musik: Schönberg, 2. Streichquartett, letzter Satz bis 3:06 frei, dann unter den Text ziehen und ausblenden)
Sprecher: Man könnte fast sagen, dass nun auch musikalisch die irdische Perspektive verlassen wird. Die Erde als Zentrum des musikalischen Universums wird aufgegeben, und damit auch die Erdenschwere der Konventionen. Die musikalischen Engel kommen nicht mehr aus dem Himmel, sondern entwickeln sich auf der Erde selbst. Das ist bei Schönberg noch deutlicher zu spüren im Schlussabschnitt seines ein paar Jahre später entstandenen Oratoriums „Die Jakobsleiter“. Dort wird eine Himmelfahrt musikalisch in Szene gesetzt. Eine sterbende Frau beginnt aus ihrem Körper zu weichen und dann zu fliegen. Die Melismen der hohen Frauenstimme wirken wie entrückt. Um diese Wirkung der Musik zu steigern, war es Schönbergs anfängliche Absicht, gegen Ende des Stückes die zahlreichen Musiker um das Publikum herum zu gruppieren. In Particell der „Jakobsleiter“ vermerkt Schönberg:
Zitatsprecher: Eingreifen des Chors und der Solisten, zuerst hauptsächlich auf dem Podium, dann immer mehr auch mit Fernchören und Fernorchestern, so dass am Schluss in den ganzen Saal von allen Seiten Musik strömt.
Musik: Schönberg, Jakobsleiter Schluss ab „Der seligste Trau erfüllt sich. Fliegen … bis nach Laune)
Sprecher: Fast zur gleichen Zeit, 1916, verfasst der italienische Komponist Ferruccio Busoni einen „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“. Darin fordert er die Auflösung des temperierten Tonsystems mit den zwölf Halbtönen und die Entwicklung neue Musikinstrumente. Zugleich ist für Busoni künstlerisches „Schaffen“ grundsätzlich definiert als ein „Formen aus dem Nichts.“ Dieses „Formen aus dem Nichts“ wird für den Komponisten Edgard Varèse zum Urknall seiner Musikvorstellung.
Zitatsprecher: Ich wurde eine Art teuflischer Parsifal, nicht auf der Suche nach dem heiligen Gral, sondern nach der Bombe, die das musikalische Universum sprengen könnte, um alle Klänge durch die Trümmer hereinzulassen, die man – bis heute – Geräusche genannt hatte.
Sprecher: In dieser Selbsteinschätzung zeigt sich nachdrücklich, dass einerseits die traditionellen Gegensätze von Teufelsbild und Heiligkeit noch bestehen, aber gewissermaßen ineinandergeschoben werden, damit, wie in einer Kernschmelze, ein neues musikalisches Universum sich bilde.
Musik: Varese, Arcana Anfang
Sprecher: Es mag ein Zufall sein oder auch nicht. Auch ein zentrales Dokument des Free Jazz der 60er Jahre trägt den Titel „Ascension“, zu deutsch: Himmelfahrt. Es handelt sich um die Aufnahme einer Kollektivimprovisation des Saxophonisten John Coltrane und weiteren sieben Musikern. Ascension war ein ungeheurer musikalischer Impuls im Jazz der 60er Jahre. Hier fand zum ersten Mal im Jazz eine Improvisationsweise statt, bei der motivisch-thematische Zusammenhänge der emotional bis zum Bersten aufgeladenen Klangeruptionen weitgehend weichen mussten. 1966 beschrieb der Jazztheoretiker Bill Matthieu dieses Werk überschwenglich:
Zitatsprecher: Das sind vermutlich die kraftvollsten menschlichen Klänge, die jemals auf Schallplatten aufgenommen wurden.
Sprecher: Marion Brown, einer der an dieser Aufnahme mitwirkenden Musiker, berichtet:
Zitatsprecher: Musik solcher Art zwingt die Leute zu schreien; und die im Studio dabei waren, schrien tatsächlich.
Musik: John Coltrane, Ascension
Sprecher: „Indem Kunstwerke da sind, postulieren sie das Dasein eines Nichtdaseinden und geraten dadurch in Konflikt mit dessen realem Nichtvorhandensein,“ schreibt 1968 der Philosoph Theodor W. Adorno in seiner „Ästhetischen Theorie“. Vielleicht sind daher Erde und Himmel gar nicht so strikt voneinander zu trennen, sondern gehen ineinander so ein, dass auch die Begriffe von Erde und Himmel sich auflösen. Einstweilen gleitet das „Raumschiff Erde“ durch das Weltall, eine Reise aufnehmend, deren Ursprung und Ziel unbekannt sind. Als temporäre Passagiere sind wir ahnungslos. Und unser Wissen von der Welt wird anscheinend immer kleiner, je mehr wir in Erfahrung bringen. Zugleich vermehrt die Erweiterung des Wissen die Ungewissheit. Mittlerweile werden auch die Kant’schen Grundannahmen der Anschauung, „Zeit“ und „Raum“, durch neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse immer gründlicher zerlegt, gefaltet und schließlich bis ins Nichts pulverisiert. An den Grenzbereichen dieser jüngsten Experimente verschwindet gar die raum-zeitliche Kausalität: Man spricht dann von negativer Geschwindigkeit. Das heißt, dass es unter bestimmten Bedingungen möglich ist, Informationen von einem Ort zum anderen zu transportieren, so dass die Information bereits am Zielort ist, bevor sie losgeschickt wurde. Anfang und Ende, Hier und Dort, Ursache und Wirkung: sind dies somit nur Gespenster unserer Erfahrung, die für die Menschenwesen Bedeutung besitzen und Struktur schaffen, ansonsten aber doch nur einfältige und überholte Erklärungsmuster darstellen. Etwas Ähnliches trifft auch für die Kunst zu. Auch wenn uns Kunstwerke gegenübertreten und sie uns berühren, was verstehen wir denn dann von ihnen?
Zitatsprecher: Gesetzt, man schätze den Wert einer Musik danach ab, wieviel von ihr gezählt, berechnet und in Formeln gebracht werden könne, – wie absurd wäre eine solche „wissenschaftliche“ Abschätzung der Musik! Was hätte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt! Nichts, geradezu nichts von dem, was eigentlich an ihr „Musik“ ist!
Sprecher: Dies schrieb Friedrich Nietzsche in seiner polemischen Abhandlung „Die fröhliche Wissenschaft“ über Probleme des wissenschaftlichen Zeitalters. Was eigentlich Musik an der Musik ist, ist nicht in ihren physikalischen Bedingungen oder ihren rationalisierbaren mathematischen Proportionen begründet. Je weiter man sich der Musik rational oder emotional nähert, sie entwischt einem im gleichen Moment und gibt an anderer Stelle neue Rätsel auf. Diese Eigenschaft teilt die Musik mit unseren Vorstellungen des Himmels. Wie immer man sich den Phänomenen von Himmel und Musik auch nähert, sie sind zugleich Ort und Nicht-Ort, Raum und Nicht-Raum, sie lenken die Gedanken auf Bekanntes und Unbekanntes. Himmel und Musik weisen sowohl in metaphysischer wie in naturwissenschaftlicher Hinsicht eine hermetische Grenze unserer Erkenntnisfähigkeit auf. Dadurch bleiben Himmel und Musik genauso geheimnisvoll wie unerkennbar. Doch unübertretbar ist diese Grenze der Erkenntnis nicht. Man muss eigentlich nur andere Pfade wählen – und dann bricht auch die „letzte Schranke“ für Momente. So jedenfalls deutet es es Schubert in seinem Stück „Nachthelle“ auf einen Text von Johann Gabriel Seidl an.
Musik: Schubert: Nachthelle [Track 18] möglichst komplett 5:23
Sprecher: Der Abschied von der Gewissheit als einem starren Faktum, welches uns von außen – durch einen Gott –, oder von innen – durch die Menschen selbst –, gegeben wäre, scheint so unausweichlich wie gefordert. Was dennoch sowohl diesseits und jenseits der vermeintlichen Gewissheiten möglich wäre, hat einmal Friedrich Nietzsche in seiner „fröhlichen Wissenschaft“ als die Freiheit des Geistes bezeichnet.
Zitatsprecher: Es wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsche nach Gewißheit den Abschied gibt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an den Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie Geist par exellence.
Sprecher: Der Philosoph Walter Schulz hat ein solches Seil aufgespannt, wenn er die Ästhetik als eine „Metaphysik des Schwebens“ beschreibt. Dieses Seil ist gespannt zwischen Schein und Sein, zwischen Wahrheit und Täuschung, zwischen Materie und Phantasie, zwischen Sinnlichkeit und Reflexion. Die Metaphysik des Schwebens kennt keinen festen Boden und keinen metaphysischen Halt: weder in einer „höheren Ordnung“ noch im mechanischen Materialismus. Dieses Eingeständnis der notwendigen Verunsicherung ist dabei der Nährboden für Freiheit und Beweglichkeit. Novalis wäre neben Nietzsche durchaus ein würdiger Stammvater dieser Metaphysik des Schwebens, wenn er sagt:
Zitatsprecher: Alles Sein, Sein überhaupt ist nichts als Freisein – Schweben zwischen den Extremen, die notwendig zu vereinen und zu trennen sind. Aus diesem Lichtpunkt des Schwebens strömt alle Realität aus. Sein, Ich sein, Frei sein, und Schweben sind Synonyme.
Sprecher: Wenn man zum Beispiel der späten Musik eines Claude Vivier lauscht, dann scheint auch sie wie in einer Zwischenwelt, im Zwielicht zu schweben. In Viviers Musik schmelzen Erfindungen und Findungen, Kulturen und Visionen, Metaphysik und Physik, Erfahrungen und Ideen, geheimnisvoll, dunkel, fremd und bekannt zugleich zusammen. Der Klangraum irrisiert, scheint zum Greifen nahe und doch wie als dunkler Nebel dem direkten Zugriff entzogen. Die Musik hat den Himmel eingeholt. Es gibt nur Musik in dem Himmel, der wir selbst sind, wenn wir anfangen, die Freiheit auszuhalten und nicht hinter ihren Anspruch zurückzufallen und damit missbräuchlich einzusetzen. Claude Viviers letztes Werk mit dem Titel „Glaubst Du an die Unsterblichkeit der Seele“ ist auch in diesem Wissen um Freiheit und seine permanenten Gefährdungen entstanden. Das große Fragezeichen, welches dieses Stück wie alle große Kunst aufgibt, ist auch ein Zeichen der Bescheidenheit und des Respektes gegen das, was man nicht selbst ist oder sein könnte.
Musik: Claude Vivier: Glaubst Du an die Unsterblichkeit der Seele, ab 5:16 bis 8:15
Quelle: Manuskript. Sendetermin Bayern2Radio, 16.10.2001 20:05